AG Korbach vom 23.01.2003 (7 F 996/02 Korb)

Stichworte: Sorgerechtsentzug, kulturelle Differenzen
Normenkette: BGB 1666, MSA 2
Orientierungssatz: Kommt es auf Grund unterschiedlicher Wertvorstellungen zwischen den nach islamischer Moral und Sitte lebenden Eltern und ihrer sich verstärkt der westlichen Lebensweise zuwendenden minderjährigen Tochter zu schweren innerfamiliären Konflikten, die nicht mehr einvernehmlich gelöst werden können, muss zum Schutz des Kindes ein Eingriff in die elterliche Sorge nach § 1666 BGB erfolgen.

Text:

7 F 996/02 Korb

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In dem Verfahren betreffend die Jugendliche X.

hat das Amtsgericht - Familiengericht - Korbach durch den Richter am Amtsgericht Gimbernat Jonas am 23.1.2003 beschlossen:

I. Die Personen- und Vermögenssorge für die Jugendliche C. (Nachname), geboren am 1.1.1987, wird den Beteiligten zu 1) und 2) entzogen und dem Kreisjugendamt Waldeck-Frankenberg als Vormund übertragen.

II.Von der Erhebung einer Gerichtsgebühr wird abgesehen. Die Erstattung aussergerichtlicher Kosten wird nicht angeordnet

III.Der Geschäftswert wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten zu 1) und 2) sind die Eltern der am 1.1.1987 geborenen C. (Nachname). Sie sind, ebenso wie die betroffene Jugendliche C., jemenitische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und moslemischen Glaubens. Im Jahre 1997 reisten die Beteiligten zu 1) und 2) zusammen mit ihren insgesamt 8 Kindern nach Deutschland ein und beantragten die Gewährung von Asyl. Ihr Antrag wurde im Jahre 1998 durch die Verwaltungsbehörde abgelehnt; die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Kassel durch Urteil vom 25.7.2001 (Az.: 3 E 2524/98.A) ab. Zwischen den Beteiligten zu 1) und 2) einerseits und zwei älteren Schwestern von C., nämlich der am 1.1.1982 geborenen A. und der am 1.1.1986 geborenen B., ist es bereits in der Vergangenheit zu erheblichen Differenzen in Erziehungsfragen und in Fragen des täglichen Zusammenlebens gekommen. Zunächst zog die Schwester A. von zu Hause aus, um sich schutzsuchend in ein Frauenhaus zu begeben, nachdem sie gegen ihren Willen von ihren Eltern mit einem Mann verheiratet werden sollte. A. lebt inzwischen mit ihrem nichtehelichen Kind allein und hat sich mit ihren Eltern versöhnt. Bezüglich der Schwester B. mussten im Jahr 2000 unter dem Az. 7 F 357/00 SO und im Jahr 2002 unter dem Aktenzeichen 7 F 126/02 SO bei dem Familiengericht Korbach zwei Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet werden. Das Kreisjugendamt hatte zuletzt die Schwester B., die immer wieder von zu Hause weggelaufen und von ihren Eltern nach ihrer jeweiligen Rückkehr geschlagen und eingesperrt worden war, in Obhut genommen. Mit Beschluss des Familiengerichts Korbach vom 13.8.2002 (Az.: 7 F 126/02 SO) ist den Beteiligten zu 1) und 2) die elterliche Sorge für die Tochter B. gemäß § 1666 BGB entzogen und das Kreisjugendamt Waldeck-Frankenberg zum Vormund bestellt worden. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main durch Beschluss vom 26.9.2002 (Az.: 2 UF 280/02) zurückgewiesen.

Inzwischen ist es auch bei C. zu massiven Störungen im Eltern-Kind-Verhältnis gekommen. Im August 2002 lief C. wegen wiederholter körperlicher Misshandlungen, insbesondere durch ihre Mutter, erstmals von zu Hause weg und begab sich schutzsuchend in ein Mädchenwohnheim. Nach einigen Tagen fand sie Aufnahme im Haushalt ihrer älteren Schwester A., wo sie 2 bis 3 Tage blieb. Auf Drängen ihres Vaters kehrte sie sodann in den elterlichen Haushalt zurück, nachdem ihre Mutter ihr versprochen hatte, sie nicht mehr zu schlagen.

C. hat sich nunmehr hilfesuchend an die Polizei und an das Jugendamt gewandt. Sie gibt an, dass sie weiterhin von ihren Eltern, insbesondere von ihrer Mutter, die im Übrigen gar nicht ihre leibliche Mutter sei, geschlagen werde. Die Jugendliche ist von dem Jugendamt in Obhut genommen worden und befindet sich zur Zeit in einer Jugendschutzstelle.

Die Beteiligten zu 1) und 2) haben der Inobhutnahme zunächst zugestimmt. Nunmehr widerspricht der Beteiligte zu 1) der Inobhutnahme und besteht auf eine Rückkehr der Jugendlichen in den elterlichen Haushalt.

II.

Die internationale Zuständigkeit des Familiengerichts Korbach folgt aus Art. 1, 12, 13 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5.10.1961 (MSA), da die Jugendliche ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat

Die Anordnung von Schutzmaßnahmen bzgl. der Jugendlichen richtet sich gemäß Art. 2 MSA nach materiellen deutschem Recht, mithin nach §§ 1666, 1666a BGB.

Zwar müssen die Schranken für eine inländische Schutzmaßnahme, die sich aus Art. 3 MSA in Verbindung mit dem Heimatrecht der Jugendlichen ergeben, respektiert werden. Ob das Heimatrecht der Jugendlichen ein besonderes Gewaltverhältnis im Sinne des Art. 3 MSA vorsieht, kann auf Grund der dem Familiengericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nicht abschliessend beurteilt werden - die hiesige Gerichtsbibliothek lässt nur eine Ermittlung des Rechtszustands im Jemen des Jahres 1978 zu, wonach nach dem Familienrecht der Scharia ein besonderes Gewaltverhältnis des Vaters bestanden haben dürfte (Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Jemen, 61. Lieferung, Ziff. III.B .5. IV.). Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, da auf jeden Fall Schutzmaßnahmen nach Art. 8 MSA erforderlich sind, um eine ernstliche Gefährdung der Jugendlichen abzuwenden

Das körperliche, geistige und seelische Wohl von C. ist akut gefährdet i. S. d. § 1666 BGB. C., die inzwischen 16 Jahre alt ist, hat sowohl gegenüber dem Kreisjugendamt als auch gegenüber dem Familiengericht eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt für sie nicht in Frage kommt. Hierzu hat C. - für das Familiengericht nachvollziehbar - geschildert, dass sie zu Hause geschlagen und beschimpft wird. Sie darf keine Freundinnen haben, kein Handy, keine Tragetasche, sich nicht schminken und soll nach dem Willen ihrer Mutter ausserhalb der Wohnung ein Kopftuch tragen. Ihre Mutter ist gegen den Schulbesuch eingestellt und hindert sie am anfertigen der Schulhausaufgaben. Die Schilderungen der Jugendlichen waren plastisch und glaubhaft. Die Angaben zu den häuslichen Verhältnissen decken sich mit den Angaben, die ihre Schwester B. Anfang des Jahres sowohl gegenüber dem Jugendamt als auch gegenüber dem Familiengericht gemacht hat. Ausweislich der zu den Akten gereichten ärztlichen Bescheinigung des Stadtkrankenhauses Bad Arolsen mußte C. am 7.12.2002 wegen einer Prellung des linken Oberarms und der rechten Hand ambulant behandelt werden. Zu der Entstehung der Verletzungen haben die Beteiligten zu 1) und 2) keine plausible Erklärung abgeben können. Der Einwand des Beteiligten zu 1), dass sich die Geschwister schon einmal untereinander streiten würden, ist nicht überzeugend, zumal der Beteiligte zu 1) zugleich angegeben hat, er könne sich nicht vorstellen, dass eines der Geschwister oder C. selbst die Verletzungen verursacht habe. Der Behauptung der Schwester A., dass C. die Treppe hinuntergefallen sei, schenkt das Gericht keinen Glauben, zumal die Schwester A. bereits anlässlich des Verfahrens 7 F 126/02 SO sich widersprechende Angaben gemacht hatte und daher unglaubwürdig ist.

Die Kindeswohlgefährdung beruht auf einem elterlichen Erziehungsversagen, mit dem nach § 1666 BGB kein Verschuldensvorwurf verbunden sein muss. Die Beteiligten zu 1) und 2) wollen C. nach ihren Traditionen und Regeln großziehen, wonach eine Tochter bis zur Heirat zur Familie gehört und dort so lange bleibt, bis sie heiratet. Hierbei übersehen sie jedoch, dass eine Erziehung von C. in Deutschland ohne die Gefahr dramatischer Konflikte, wie sie vorliegend massiv aufgetreten sind, nur möglich gewesen wäre, wenn sie wesentliche Abstriche von der traditionell geprägten Erziehung der Jugendlichen gemacht hätten. Auch wenn es den Eltern grundsätzlich unbenommen bleibt, ihre Kinder entsprechend ihrer Tradition und ihren Wertvorstellungen zu erziehen, so lässt sich dies faktisch nur in einem entsprechenden Umfeld verwirklichen, nicht aber in einem Umfeld, in dem die anerkannten und für beide Geschlechter gleichermaßen maßgebenden Erziehungsziele (§ 1626 II 1 BGB: Pflicht der Eltern zur Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeit und des wachsenden Bedürfnisses des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewußtem Handeln; § 1631 II 1 BGB: Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung) in deutlichem Gegensatz zur Stellung der Frau in der islamischen Familie stehen (vgl. KG, NJW 1985, 68 [70]) und wenn und soweit - wie vorliegend - der erzieherischen Einstellung der Eltern dauerhaft die Haltung der 16jährigen Jugendlichen entgegensteht.

Auf Grund ihrer Wertvorstellungen sind die Beteiligten zu 1) und 2), die auch weiterhin auf ihre Tochter und auf die Jugendschutzstelle einzuwirken versuchen, um eine Rückkehr von C. in die Familie durchzusetzen, nicht in der Lage, die Gefahr für die Jugendliche abzuwenden.

Mildere Maßnahmen als der Entzug der gesamten elterlichen Sorge reichen zur Abwendung der Gefahr nicht aus (§ 1666a II BGB). Eine Rückkehr von C. in die Familie kommt gegen ihren Willen nicht in Betracht. Würde sie gegen ihren Willen zur Rückkehr gezwungen werden, würde sie sich früher oder später aller Voraussicht nach erneut der elterlichen Erziehung entziehen und die Wohnung verlassen, und zwar diesmal möglicherweise ohne Hilfeersuchen an Behörden und Gericht mit der Folge, dass sie in ungeordnete Lebensverhältnisse geraten würde, was auch nicht im Interesse der Beteiligten zu 1) und 2) sein kann. Der zugespitzte Konflikt zwischen der Jugendlichen und den Beteiligten zu 1) und 2) erfordert, dass hinsichtlich sämtlicher in Zukunft noch auftretenden persönlichen und vermögensrechtlichen Fragen eine neutrale und zugleich sachkompetente Institution, mithin das Kreisjugendamt, zuständig ist, um weitere Konfliktsituationen zwischen C. und ihren Eltern zu vermeiden

Die Kostenentscheidung folgt aus § 94 III KostO, § 13a FGG.

Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 30 II KostO

Jonas

http://www.hefam.de/urteile/7F99602Korb.html