OLG Frankfurt vom 04.09.2015 (6 UF 150/15)

Stichworte: Angelegenheit des täglichen Lebens; Angelegenheit von erheblicher Bedeutung; Impfung;
Normenkette: BGB 1628; BGB 1687; BGB 1697a;
Orientierungssatz:
  • Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang ein Kind geimpft werden soll, betrifft keine Angelegenheit des täglichen Lebens i. S. d. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB, sondern eine Angelegenheit, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist (§ 1628 BGB), weil sie mit der Gefahr von Risiken und Komplikationen verbunden ist (Anschluss an KG FamRZ 2006, 142).
  • Eine Differenzierung zwischen der Zustimmung zur Impfung als Angelegenheit des täglichen Lebens und ihrer Verweigerung als Angelegenheit von erheblicher Bedeutung kommt nicht in Betracht (Ablehnung zu AG Darmstadt NJW-Spezial 2015, 485 = NZFam 2015, 778 m. Anmerkung Luthin).
  • Bei fehlender Einigung der Eltern kann das Familiengericht gemäß § 1628 BGB zur Herbeiführung der notwendigen Entscheidung einem Elternteil die Entscheidungskompetenz übertragen. Maßgeblich für die Entscheidung ist gemäß § 1697a BGB die Frage, welcher Elternteil am ehesten geeignet ist, eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung zu treffen.
  • 50 F 39/15 SO
    AG Darmstadt.

    Oberlandesgericht Frankfurt am Main

    B E S C H L U S S

    In der Familiensache

    hat der 6. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Sitz in Darmstadt durch Richter am Amtsgericht Dr. Kischkel als Einzelrichter am 4. September 2015 beschlossen:

    Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Darmstadt vom 11.06.2015, Az. 50 F 39/15 SO, mit Ausnahme der Kostenentscheidung und der Wertfestsetzung, die bestehen bleiben, aufgehoben.

    Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.

    Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.

    [ ... Verfahrenskostenhilfe ...]

    Gründe:

    I.

    Bei der Antragstellerin und dem Antragsgegner handelt es sich um die gemeinsam sorgeberechtigten, getrennt lebenden Eltern der minderjährigen Kinder A. und B., die zumindest derzeit ihren zeitlich überwiegenden Aufenthalt bei der Antragsgegnerin haben. Diese hat bei beiden Jungen bereits mehrere der kinderärztlich empfohlenen Impfungen (u. a. die erste Tetanus-/Diphterie-/Pertussis-Kombinationsimpfung) durchführen lassen. Über die Durchführung weiterer Impfungen (zweite TDP- und Masern-Impfung) bestand zunächst keine Einigkeit zwischen den Kindeseltern.

    Die Kindesmutter hatte daraufhin bei dem Amtsgericht - Familiengericht - Darmstadt beantragt, ihr die Alleinentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfungen, hilfsweise die Gesundheitssorge für beide Kinder, zu übertragen.

    Mit am 11.06.2015 verkündeten Beschluss (veröffentlicht mit Leitsatz und Kurzwiedergabe in NJW-Spezial 2015, 485-486 und NZFam 2015, 778, dort m. Anmerkung Luthin) hat das Amtsgericht daraufhin unter Zurückweisung des Antrags im Übrigen die Feststellung getroffen, dass der Antragstellerin die alleinige Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfung der beiden Kinder ohnedies zustehe. Begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass es sich bei der Entscheidung für die Durchführung der empfohlenen Impfungen - anders als bei der Entscheidung gegen die Impfung - um Angelegenheiten des täglichen Lebens i. S. d. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB handele, über die die Antragsgegnerin alleine entscheiden könne, weil die Kinder sich überwiegend bei ihr aufhielten.

    Der Antragsgegner hat gegen die ihm am 15.06.2015 zugestellte Entscheidung mit Schriftsatz vom 03.07.2015, Eingang bei Gericht am 08.07.2015, mit dem Antrag Beschwerde eingelegt, festzustellen, dass die Kindesmutter ohne seine Zustimmung keine Impfungen der Kinder durchführen lassen dürfe und sich zur Begründung zum einen auf von ihm beobachtete negative Folgen der bisher bereits durchgeführten Impfungen, zum anderen auf den Umstand bezogen, dass die Kinder ab dem 15.09.2015 im Rahmen des Wechselmodells gleichmäßig bei beiden Kindeseltern aufenthältlich sein werden und daher für die Anwendung des § 1687 BGB kein Raum mehr sei.

    Die Antragstellerin hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, ferner im Wege der Anschlussbeschwerde erneut, ihr die alleinige Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfungen zu übertragen.

    Im Anhörungstermin vor dem Einzelrichter vom 01.09.2015 haben sich die Kindeseltern mit ausdrücklicher Zustimmung des Jugendamtes dahingehend geeinigt, dass sie nach Konsultation eines weiteren Kinderarztes künftig einvernehmlich dessen Empfehlungen zu Durchführung und Umfang der Impfungen beider Kinder folgen werden und der erstinstanzliche Beschluss entsprechend abgeändert bzw. aufgehoben werden soll. [... wird ausgeführt ...]

    II.

    Die nach § 58 Abs. 1 FamFG statthafte und gemäß den §§ 59 Abs. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 und 2, 65 Abs. 1 FamFG in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde des Kindesvaters führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in der Sache, denn die beteiligten Kindeseltern sind als gemeinsame Inhaber der elterlichen Sorge für A. und B. nur gemeinsam zur Entscheidung über das Ob und den Umfang der Impfung ihrer Kinder berechtigt, §§ 1626 Abs. 1, 1627, 1631 Abs. 1 BGB.

    Der Senat folgt nicht der Auffassung des Amtsgerichts, dass es sich bei dieser Frage um eine Entscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens i. S. v. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB handelt (zur Abgrenzung vgl. Jaeger in: Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. A., § 1687 BGB, Rn. 4 m. w. N.). Die Regelung des Ob und des Wie der Impfung betrifft eine Frage von erheblicher Bedeutung für beide Kinder, weil sie mit der Gefahr von gesundheitlichen Risiken und Komplikationen verbunden ist (ebenso KG FamRZ 2006, 142-143; B. Hamdan in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 1628 BGB, Rn. 7, zit. n. juris; a. A. OLG Frankfurt FamRZ 2011, 47; Schwab in FamRZ 1998, 457, 469 zu "Routineimpfungen"). Werden Impfungen durchgeführt, kann es im Einzelfall zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen bei dem Impfling kommen, unterbleiben sie, besteht die Gefahr der Ansteckung mit der Krankheit, vor der die Vakzination Schutz gewähren soll. Darüber hinaus können sich weitere Folgen ergeben: So gilt bei Verdacht auf eine Masern-, Diphterie- oder Keuchhusten-Erkrankung nach § 34 Infektionsschutzgesetz ein Besuchsverbot in Kindergemeinschaftseinrichtungen (Schulen und Kindergärten). Auch nicht oder nicht ausreichend geimpfte Personen, die im selben Haushalt wie eine erkrankte oder krankheitsverdächtige Person wohnen, sind für einen Zeitraum von 14 Tagen nach dem Kontakt zu dem Erkrankten vom Besuch der Einrichtungen ausgeschlossen. Gerade die in letzter Zeit zu beobachtenden Folgen der Nichtimpfung, darunter das endemische Auftreten von Masern in Berlin seit Oktober 2014 mit weit über tausend Betroffenen, verbunden mit Schulschließungen und mindestens einem Todesfall sowie einem Schulverbot für nicht geimpfte Kinder (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 11. März 2015, Az. 14 L 35.15, zit. n. juris), oder zuletzt in Marburg im Mai 2015, das zu einem vorübergehenden Betretungsverbot des Schulgebäudes für nicht geimpfte Schüler geführt hat (http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/infektionskrankheiten/masern/article/888117/marburg-neue-masernfaelle-waldorfschule.html?sh=1&h=-1561833666), verdeutlichen die erhebliche praktische Relevanz der Impfentscheidung der Sorgeberechtigten nicht nur für die Gesundheit, sondern mittelbar auch für die schulische Erziehung der betroffenen Kinder.

    Die vom Amtsgericht vorgenommenen Differenzierung zwischen der Durchführung der Impfung als Angelegenheit des täglichen Lebens i. S. d. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB und ihrer Nichtdurchführung als Angelegenheit von erheblicher Bedeutung i. S. d. § 1628 BGB vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil mit der Entscheidung, die Impfung durchzuführen, auch stets die Entscheidung verbunden ist, nicht von der Impfung abzusehen. Können Kindeseltern in dieser Frage keine Einigung finden, ist daher nach § 1628 BGB eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen (KG aaO.).

    Allerdings besteht nach der gütlichen Einigung der Kindeseltern im Termin vom 01.09.2015 über die weitere Vorgehensweise in Bezug auf die Impfung ihrer Söhne keine Veranlassung mehr, die von der Antragstellerin ursprünglich begehrte Entscheidung nach § 1628 BGB zu treffen oder gemäß ihrem erstinstanzlichen Hilfsantrag die Gesundheitssorge für beide Kinder nach § 1671 Abs. 1 S. 2 Ziffer 2 BGB zur alleinigen Ausübung auf sie zu übertragen.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Veranlassung zur Abänderung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung besteht nicht.

    Die Festsetzung des Beschwerdewertes folgt aus § 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.

    Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 FamFG liegen nicht vor, da die Entscheiung ihr Grundlage in der Einigung der Eltern findet.

    [ ...Verfahrenskostenhilfe ... ]

    Dr. Kischkel