OLG Frankfurt vom 21.04.2010 (5 UF 253/09)

Stichworte: fiktive Einkünfte, Zurechnungsvoraussetzungen; Erwerbschancen, ungelernte Kräfte;
Normenkette: BGB 1603 Abs. 2 S. 1; BGB 1603 Abs. 2 S. 1;
Orientierungssatz:
  • Die Arbeitsmarktverhältnisse lassen es als zweifelhaft erscheinen, ob ein Unterhaltspflichtiger bei genügender Anstrengung Unterhaltspflichten überhaupt noch erfüllen kann, wenn er keine qualifizierte Ausbildung hat.
  • Auch bei gesteigerter Erwerbsobliegenheit gegenüber einem minderjährigen Kind kann ein fiktives Einkommen nur in der Höhe unterstellt werden kann, wie es nach der persönlichen Erwerbsbiografie und einer fehlenden beruflichen Qualifikation aufgrund objektiv feststellbaren Voraussetzungen überhaupt erreichbar ist.
  • Die Annahme eines Stundenlohns, der deutlich über den aktuellen Mindestlöhnen liege, bedarf einer besonderen Feststellung durch das Gericht.
  • Oberlandesgericht Frankfurt am Main

    U R T E I L

    In der Familiensache

    hat der 5. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch den Richter am Oberlandesgericht Held als Einzelrichter auf die Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Gießen vom 31.07.2009 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2010 für Recht erkannt:

    Das Teilurteil wird abgeändert.

    Die Klage wird abgewiesen, insoweit die Beklagte zu Kindesunterhalt für die Zeit ab Monat März 2009 verurteilt worden ist.

    Die Kostenentscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    Wert der Berufung: 1.740 E.

    Gründe:

    Die Kläger begehren die Verurteilung der Beklagten zu Kindesunterhalt ab Monat August 2008 in Höhe des jeweiligen gesetzlichen Mindestunterhalts abzüglich des jeweiligen Kindergeldanteils. Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Teilurteil über den Unterhaltsanspruch der Kläger für die Zeit ab März 2009 entschieden und die Beklagte verurteilt, für jedes Kind von da ab einen monatlichen Kindesunterhalt von je 72,50 E zu zahlen und die Klage für diesen Zeitraum im Übrigen abgewiesen. Über den Rest des geltend gemachten Anspruchs (August 2008 bis Februar 2009) hat sich das Amtsgericht die Entscheidung vorbehalten, weil in dieser Zeit die Erwerbsunfähigkeit der Beklagten streitig sei und die Frage durch Beweiserhebung geklärt werden müsse (Beweisbeschluss vom 31.07.2009). Wegen der Begründung wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vollinhaltlich Bezug genommen.

    Mit ihrer Berufung begehrt die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage für die Zeit ab März 2009 abzuweisen. Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil.

    Die Klage ist für die Zeit ab März 2009 unbegründet, weil die Beklagte unter Berücksichtigung des gesetzlichen Maßstabs (§ 1603 Abs. 2 S. 2 BGB) nicht leistungsfähig ist.

    Die Verurteilung durch das Amtsgericht beruht auf der Zurechnung fiktiven Einkommens, denn die Beklagte verdient seit Mai 2009 in Teilzeitarbeit nur zwischen 500 und 600 EUR monatlich. Damit erreicht die Beklagte nicht den notwendigen Selbstbehalt als unterste Grenze der Inanspruchnahme. Dieser beträgt bei einer Unterhaltsverpflichtung gegenüber minderjährigen Kindern gemäße Ziff. 21.2 entsprechend den Unterhaltsgrundsätzen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main - Stand 01.01.2008 in der Fassung vom 15.05.2008 - monatlich 900 EUR.

    Das Amtsgericht war der Auffassung, der Beklagten müsse ein volles Erwerbseinkommen deswegen fiktiv angerechnet werden, weil sie nicht dargelegt habe, dass sie ihrer erhöhten Erwerbsobliegenheit ausreichend nachgekommen sei. Sie hätte vortragen müssen, welche Schritte sie im Einzelnen unternommen habe, um eine vollschichtige Arbeitsstelle zu finden. Dazu hätte es auch gehört, dass sie sich aus eigenem Antrieb laufend über Zeitungsannoncen oder Vermittlungsagenturen um Arbeit bemüht habe; notfalls hätte sie, auch im Nebenerwerb, andere Tätigkeiten bis hin zu Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiten übernehmen müssen, um zumindest die Zahlung des Mindestunterhalts sicherzustellen. Somit sei der Beklagten ein vollschichtiges Einkommen zuzurechnen, wobei sie sich aber nur so behandeln lassen müsse, wie reale Beschäftigungschancen für das fiktive Einkommen bestünden. Die Beklagte sei gelernte Töpferin, aber nach der Ausbildung jedoch nur kurzfristig und auch nur hin und wieder in dem erlernten Beruf eingesetzt gewesen. Die Tätigkeit als Musik- und Kunsterzieherin, die sie seit Mai 2009 in Teilzeit ausübe, sei staatlich nicht anerkannt und könne deswegen auch nicht zu einer vollschichtigen Tätigkeit in der Montessorischule, ihrer Arbeitgeberin, führen. Es könne daher nur ein Einkommen unterstellt werden, dass die Beklagte als ungelernte Kraft verdienen könnte. Ein höheres Nettoeinkommen als 1.100 EUR sei von ihr nicht zu erreichen.

    Diese Auffassung des Amtsgerichts ist im Grundsatz zutreffend. Ihre Ausbildung als Töpferin eignet sich nicht zum Einsatz in einer industriellen Fertigung von Tonwaren, etwa im nahe gelegenen "Kannenbäcker Land". Zwar zeigt sich ihr Einsatz in der Montessorischule als Musik- und Kunsterzieherin, dass sie über die Fähigkeit verfügt, dort als Lehrerin tätig zu sein. Eine Ausweitung dieser Tätigkeit kann sie aber nicht erreichen. Die Beklagte wurde auch am 12.10.2009 von der Schule gekündigt und kann dort nur noch als geringfügig Beschäftigte weiterarbeiten. Die von ihr mit Schriftsatz vom 02.02.2010 erstmals im Berufungsverfahren vorgelegten Bewerbungsunterlagen weisen darauf hin, dass sie auch bei Aufnahme mehrerer Nebentätigkeiten kein Einkommen erzielen könnte, das über dem sogenannten "kleinen Selbstbehalt" liegt. Vielfach verlangen Arbeitgeber von Teilzeitkräften eine uneingeschränkte zeitliche Mobilität, die der gleichzeitigen Führung mehrerer Beschäftigungsverhältnisse nebeneinander im Wege steht. So hat das Diakonische Werk mit Schreiben vom 20.01.2010 der Beklagten bestätigt, dass sie wegen des Einsatzes in der Montessorischule nicht auch am Dienstag- und Donnerstagnachmittag als Honorarkraft in der Ganztagsschule in X-Stadt eingesetzt werden kann und deswegen nicht übernommen wurde. In der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2010 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie nunmehr in geringfügigem Umfang noch eine Kinderbetreuung durchführen kann. Die Einkünfte daraus erreichten zusammen mit dem reduzierten Einkommen aus der Beschäftigung in der Montessorischule nicht annähernd das notwendige Mindesteinkommen. Nach der Rechtsprechung des Senats (etwa 5 UF 171/06, Beschluss vom 29.09.2006, http://www.hefam.de/urteile/5UF17106.html ist auch bei gesteigerter Unterhaltspflicht gegenüber einem Minderjährigen bei der Leistungsfähigkeit im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltsschuldner als ungelernte Arbeitskraft auf dem heutigen Arbeitsmarkt überhaupt eine realistische Chance auf eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Verdienst im Bereich des kleinen Selbstbehalts hat. Die wirtschaftlichen Verhältnisse lassen es nämlich als zweifelhaft erscheinen, ob ein Unterhaltspflichtiger bei genügender Anstrengung Unterhaltspflichten überhaupt noch erfüllen kann, wenn er keine qualifizierte Ausbildung hat. Um das vom Amtsgericht unterstellte bereinigte Nettoeinkommen von 1.045 EUR zu erreichen, wäre bei Lohnsteuerklasse I ein Bruttolohn von 1.541,22 EUR erforderlich, was bei 173 Stunden Arbeitszeit im Monat einen Stundenlohn von knapp EUR voraussetzt. Der Senat hat in dem vorerwähnten Beschluss vom 29.09.2006 einige Mindestlöhne für ungelernte Arbeitnehmer nach Tarifverträgen und Rechtsverordnungen aufgeführt, wobei ein Stundenlohn in Höhe von 9 EUR bei einer Arbeitskraft mit der Beklagten im ungelernten Bereich (also etwa als Verkäuferin in einer Bäckerei) nicht angenommen werden kann. In einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 11.03.2010, 1 BvR 3031/08, FamRZ 2010, 793) wird darauf hingewiesen, dass bei gesteigerter Erwerbsobliegenheit gegenüber einem minderjährigen Kind ein fiktives Einkommen nur in der Höhe unterstellt werden kann, wie es nach der persönlichen Erwerbsbiografie und einer fehlenden beruflichen Qualifikation aufgrund objektiv feststellbaren Voraussetzungen überhaupt erreichbar ist. Die Annahme eines Stundenlohns, der deutlich über den aktuellen Mindestlöhnen liege, bedürfe einer besonderen Feststellung durch das Gericht. In dem von dem BVerfG entschiedenen Fall hatte das Fachgericht angenommen, der Unterhaltspflichtige könne ein Einkommen von 1.200 EUR monatlich erzielen bei einem Stundenlohn von 10 EUR bis 11 EUR die Stunde. Diese pauschale Feststellung hat das Bundesverfassungsgericht nicht gelten lassen und die Anforderung an den Beschwerdeführer für überspannt gehalten. Bei einer regulären Arbeitszeit von 170 Stunden im Monat müsse der Beschwerdeführer einen Bruttostundenlohn in Höhe von rund 9,70 EUR erhalten, was mit Blick auf die aktuellen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und der persönlichen Situation des Beschwerdeführers nicht realistisch sei.

    Gleiches trifft für die Beklagte zu, die unstreitig zweitweise psychisch erkrankt war, den Tod ihres Vaters und die Übersiedlung der Kinder in den Haushalt deren Vaters zu verkraften hatte, in Y-Dorf wohnhaft ist und ihre Berufsausbildung als Töpferin nicht einsetzen kann.

    Demnach kann allenfalls ein Stundenlohn von höchstens 7 EUR angesetzt werden (etwa bei der Kinderbetreuung oder einer Tätigkeit als Verkäuferin) die in Teilzeit ausgeübt neben der Tätigkeit in der Montessorischule zu keiner Leistungsfähigkeit führen würde. Ein Stundenlohn von 7 EUR führt bei 173,9 Stunden im Monat zu einem Bruttoarbeitslohn von 1.217,30 EUR und nach Abzug der Lohnsteuer nach Steuerklasse I sowie der Sozialversicherungsbeiträge und pauschale berufsbedingte Aufwendungen zu einem Nettoeinkommen von 874,62 EUR und liegt damit unterhalb der Leistungsschwelle.

    Das angefochtene Teilurteil war dahin abzuändern, dass die Klage für den Zeitraum, über den es befunden hat, abgewiesen wird.

    Die Kostenentscheidung war dem Schlussurteil des Amtsgerichts vorzubehalten, wobei die Kosten des Berufungsverfahrens in die Gesamtkostenentscheidung einzubeziehen sind.

    Gemäß §§ 708 Ziff. 10, 713 ZPO war das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

    Held