OLG Frankfurt vom 29.09.2006 (5 UF 171/06)

Normenkette: ZPO
Orientierungssatz: Auch bei gesteigerter Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem Minderjährigen ist bei der Leistungsfähigkeit im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltsschuldner als ungelernte Arbeitskraft auf dem heutigen Arbeitsmarkt überhaupt eine realistische Chance auf eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Verdienst von bereinigt netto mehr als 890 EUR hat. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland lassen es zweifelhaft erscheinen, ob ein Unterhaltspflichtiger bei genügender Anstrengung Unterhaltspflichten überhaupt noch erfüllen kann, wenn er keine qualifizierte Ausbildung hat.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In der Familiensache

hat der 5. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 29.09.2006 beschlossen:

Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Berufung gegen das am 18.05.2006 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Offenbach am Main wird abgewiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat die Klage auf Kindesunterhalt (199,00 EUR ab 01.09.2005) mit der Begründung abgewiesen, eine fiktive Zurechnung von Arbeitseinkünften führe nicht zu einer unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des am 12.11.1970 geborenen Beklagten. Dem Unterhaltsanspruch der Klägerin gegenüber könne er zwar nicht einwenden, nach Ablegung des Abiturs im Januar 2006 ein Studium der Neurobiologie absolvieren zu dürfen. Letztlich könne all dies jedoch dahinstehen, weil er als ungelernte Kraft auf dem Arbeitsmarkt nur 900,00 EUR verdienen könne und - nach Abzug von Werbungskosten - Unterhalt des Selbstbehalts von 890,00 EUR leistungsunfähig sei. Im übrigen wird auf die Begründung des Urteils des Amtsgerichts - Familiengericht - Offenbach am Main Bezug genommen.

Die Klägerin ist der Auffassung, der Beklagte könne auch als ungelernte Kraft einen Stundenlohn 10,00 EUR und damit einen Monatslohn von 1.720,00 EUR erzielen. Zudem sei er darüber hinaus verpflichtet, eine Nebentätigkeit auszuüben. Damit sei er für den verlangten Mindestunterhalt in jedem Fall leistungsfähig. Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Klägerin kann keine Prozesskostenhilfe für die Berufung bewilligt werden, weil der beabsichtigten Berufung die Erfolgsaussicht fehlt (§ 114 ZPO): Der Senat teilt die Auffassung des Amtsgerichts.

Nach Ziff. 21.2 der Unterhaltsgrundsätze des OLG Frankfurt am Main (Stand: 01.07.2005) gilt für Eltern gegenüber minderjährigen und diesen nach § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB gleichgestellten Kindern im allgemeinen der notwendige Selbstbehalt als unterste Grenze der Inanspruchnahme. Er beträgt 890 EUR. Davon entfallen 510 EUR auf den allgemeinen Lebensbedarf und 380 EUR auf den Wohnbedarf (290 EUR Kaltmiete, 90 EUR Nebenkosten und Heizung). Um den von der Klägerin verlangten Unterhalt von monatlich 199,00 EUR erbringen zu können, wäre demnach unter Berücksichtigung von fiktiven Werbungskosten (5 % Werbungskostenpauschale) ein Nettoeinkommen von 1.143,45 EUR erforderlich.

Notwendiger Selbstbehalt890,00 EUR

verlangter Unterhalt199,00 EUR

+ 5 % pauschale Werbungskosten54,45 EUR

notwendiges Nettoeinkommen1.143,45 EUR

Um ein solches Nettoeinkommen im Jahr 2006 zu erzielen, wäre ein Bruttoeinkommen von 1.688,92 EUR erforderlich:

Steuerjahr 2006

Bruttolohn1.688,92 EUR

Lohnsteuer-Klasse 1

Kinderfreibeträge 0,5

Lohnsteuer:- 177,66 EUR

Solidaritätszuschlag- 6,38 EUR

Rentenversicherung (19,5 %)- 164,67 EUR

Arbeitslosenversicherung (6,5 %)- 54,89 EUR

Krankenversicherung AN-Anteil (13,3 % / 2 + 0,9 %)- 127,51 EUR

Pflegeversicherung (AN-Anteil 0,85 %)- 14,36 EUR

Nettolohn:1.143,45 EUR

Der Beklagte müsste daher, als ungelernter Arbeiter, einen Stundenlohn von 10,00 EUR bei ca. 170 Arbeitsstunden im Monat erzielen. Dies ist ihm aber bei den gegebenen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich.

Nach den Erkenntnissen des Senats in einer Vielzahl von Unterhaltsverfahren haben ungelernte Arbeitskräfte derzeit kaum eine Chance auf Festeinstellung zu einer Vollzeittätigkeit. Typischerweise werden ungelernte Kräfte in Teilzeitarbeit und zeitlich befristet eingestellt, wozu das Arbeitsrecht heute vielfältige Möglichkeiten bietet.

Im unteren Lohnbereich gelernter Arbeitskräfte werden heute Mindestlöhne durch Tarifvertrag und Rechtsverordnung garantiert, die im Bereich eines Stundenlohns von 10,00 EUR liegen. Mit der Dritten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Maler- und Lackiererhandwerk vom 31. August 2005 (Bundesanzeiger Nr. 178 vom 20.09.2005) beträgt der Mindestlohn für Fachkräfte im Bundesgebiet ohne die Beitrittsländer 10,73 EUR und für ungelernte Kräfte 7,85 EUR. Nach dem Lohn und Gehaltstarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen (HN LTV_GTV Bew 01.08.2003 - 31.07.2004) beträgt der Mindestlohn für Sicherheitsmitarbeiter im Revierwachdienst 7,00 EUR. Dieser Mindestlohn gilt ausdrücklich nicht für Aushilfskräfte gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV. Im Baugewerbe beträgt der Mindestlohn für ungelernte Kräfte nach der 5. Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe ab dem 01.09.2005 (www.bmas.bund.de) für ungelernte Arbeitnehmer (Lohngruppe 1) zwar 10,20 EUR, jedoch werden zur Zeit im Baugewerbe keine ungelernten Arbeiter ohne Bauberufserfahrung überhaupt eingestellt, weil in diesem Bereich ausländische Arbeitskräfte (oft mit Unterschreitung der Mindestbedingungen) den Arbeitsmarkt beherrschen, die auch Berufserfahrung aufweisen.

Daraus folgt, dass ungelernte Arbeitskräfte im Bereich des für die Unterhaltspflicht hier erforderlichen Stundenlohns mit gelernten Kräften konkurrieren müssen. Bei der hier vorliegenden Erwerbsbiographie des Beklagten, der keinerlei Berufserfahrung vorweisen kann, besteht in diesem Bereich daher keine realistische Festanstellungschance (und auch nur geringe Chancen für eine Vollzeitstelle bei einem Arbeitgeber).

Die von der Klägerin zitierte Rechtsprechung des 1. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main aus dem Jahr 2001 (1 UF 197/00), nach welcher eine ungelernte männliche Kraft bei 167 Arbeitsstunden im Monat bei einem Stundenlohn von 16,00 DM 2.672,00 DM = 1.366,17 EUR verdienen könnte, führt nicht weiter, weil damit nach Abzug pauschaler Werbungskosten nur eine Nettoeinkommen von 936,99 EUR zu erzielen ist. Auch setzt dies voraus, dass der Beklagte zu diesen Bedingungen eine Festanstellung für eine Vollzeittätigkeit wahrnehmen müsste.

Die Aufnahme einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit (OLG Schleswig, FamRZ 1999, 1524; KG FamRZ 2002, 1428) zu einer Vollzeittätigkeit mag zwar unterhaltsrechtlich verlangt werden können, um den Mindestunterhalt eines minderjährigen Kindes nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB sicherstellen zu können. Jedoch bestehen für ungelernte Kräfte realistische Erwerbschancen derzeit nur im Aushilfsbereich und weit überwiegend nur in Teilzeitarbeit. Daraus folgt, dass der Beklagte schon allein deswegen mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben müsste, um überhaupt seinen Lebensunterhalt abzudecken. Als Argument für eine weitergehende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit lässt sich daraus nichts gewinnen.

Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in den Jahren seit der Wiedervereinigung lassen es zweifelhaft erscheinen, ob ein Unterhaltspflichtiger bei genügender Anstrengung Unterhaltspflichten überhaupt noch erfüllen kann, wenn er keine qualifizierte Ausbildung hat und seinen Lebensbedarf in dem genannten Umfang zunächst sicherstellen muss.

Held Schwamb Grün