AG Büdingen vom 28.06.2021 (53 F 55/21)

Stichworte: Kindergeld; Mindestunterhalt; Zuständigkeit, internationale; Auslandsbezug; Ländergruppeneinteilung; Geldwertparität
Normenkette: BGB 1612a; BGB 1612b Abs. 1; EStG 33a; EStG 62; EuUnthVO 3a; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 67; VO (EG) 987/2009 Nr. Art. 60 Abs. 1 Nr. 2
Orientierungssatz:
  • Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat.
  • Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
  • Amtsgericht Büdingen

    B E S C H L U S S

    In der Familiensache

    hat das Amtsgericht Büdingen – Familiengericht – durch den Direktor des Amtsgerichts Knoche auf die mündliche Verhandlung vom 27. Mai 2021 beschlossen:

    Der Antrag wird abgewiesen.

    Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.

    Gründe

    Der Antragsteller ist der Sohn des Antragsgegners. Der Antragsgegner lebte mit der Mutter des Antragstellers in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Seit der Trennung der Mutter des Antragstellers und des Antragsgegners im Oktober 2015 lebt der Antragsteller im Haushalt seiner Mutter. Mit Beschluss vom 24. März 2016 des Amtsgerichts Büdingen (AZ: 53 F 912/15 –UK) wurde der Antragsgegner verpflichtet, ab April 2016 einen monatlichen, im Voraus bis zum Dritten eines jeden Monats fälligen Kindesunterhalt in Höhe von 240,00 Euro sowie einen rückständigen Kindesunterhalt für die Monate November 2015 bis März 2016 in Höhe von 1.188,00 Euro zu zahlen. Der Beschluss ist rechtskräftig.

    Der Antragsteller lebte bis August 2020 mit seiner Mutter in Deutschland und die Mutter bezog das Kindergeld nach deutschem Recht. Seit August 2020 lebt der Antragsteller mit seiner Mutter in der Slowakei. Aufgrund einer entsprechenden Mitteilung der Mutter an die Familienkasse Hessen, hat die Familienkasse mit Bescheid vom 11. August 2020 die am 26. August 2019 erfolgte Festsetzung des Kindesgeldes für den Antragsteller aufgehoben – wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf den in Kopie als Anlage zum Schriftsatz des Antragstellervertreters vom 26. Mai 2021 eingereichten Bescheid (Bl. 43, 44 d. A.). Die Mutter des Antragstellers bezieht seitdem in der Slowakei ein staatliches Kindergeld in Höhe von monatlich 25,00 Euro. Mit Schreiben vom 04. August 2020 hat der Antragsteller den Antragsgegner zur Zahlung des gesetzlichen Mindestunterhalts ab August 2020 aufgefordert –wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf das in Kopie als Anlage zur Antragsschrift eingereichten Schreiben (Bl. 7, 8 d. A.).

    Mit Antragsschrift vom 19. Januar 2021 beantragte der Antragsteller, den Antragsgegner zur Zahlung von 75% des Mindestunterhalts abzüglich des hälftigen slowakischen Kindergelds ... ab Januar 2021 sowie rückständigen Unterhalt für die Zeit von August bis Dezember 2020 in Höhe von insgesamt 1.328,00 Euro zu verpflichten. Mit Schriftsatz vom 26. Mai 2021 hat der Antragsteller in Höhe des mit Beschluss vom 24. März 2016 titulierten Betrages seinen Antrag zurückgenommen.

    Der Antragsteller beantragt,

    1. den Antragsgegner unter Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts – Familiengericht - Büdingen vom 24.03.2016, Az.: 53 F 912/15 UK, zu verpflichten, an das am … 2012 geborene Kind E ab dem 01.01.2021 monatlich 75% des Mindestunterhaltes der jeweiligen Altersstufe gem. § 1612a BGB zu zahlen, abzüglich des hälftigen staatlichen – slowakischen – Kindergeldes, ... .

    2. den Antragsgegner zu verpflichten, an das am … geborene Kind E für die Zeit von August 2020 bis Dezember 2020 rückständigen Unterhalt i. H. v. 312,50 € nebst Zinsen i. H. v. 5% über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 01.01.2021 zu zahlen.

    Der Antragsgegner beantragt,

    den Antrag abzuweisen.

    Das Gericht hat die Akten des Amtsgerichts Büdingen mit dem Aktenzeichen 53 F 912/15 – UK zu Informationszwecken beigezogen und im Termin am 27. Mai 2021 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

    Der Antrag ist zulässig aber unbegründet.

    Das Amtsgericht – Familiengericht - Büdingen ist örtlich und damit auch international zuständig. Nach Art. 3 Buchst. a) Verordnung (EG) Nr. 4/2009 (EuUnthVO) ist für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat zuständig. ...

    Nach Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (HUntProt) ist auf die Unterhaltspflicht des Antragsgegners das deutsche Recht anzuwenden. Nach dieser Vorschrift ist das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Unterhaltsrecht anzuwenden, wenn der Unterhaltsberechtigte das zuständige Gericht des Staates angerufen hat, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

    Der Antragsgegner ist dem Antragsteller zwar nach den §§ 1601 ff. BGB zum Barunterhalt verpflichtet. Der Antragsgegner ist jedoch über den Mindestunterhalt hinaus unstreitig nicht leistungsfähig und mit Beschluss vom 24. März 2016 ist der Mindestunterhalt zumindest seit August 2020 wieder in voller Höhe tituliert.

    Der Mindestunterhalt betrug für den Antragsteller von August bis Dezember 2020 monatlich 318,00 Euro abzüglich eines hälftigen Kindergeldanteils in Höhe von 102,00 Euro, so dass sich von August bis Dezember 2020 ein Zahlbetrag in Höhe von monatlich (318,00 Euro – 102,00 Euro =) 216,00 Euro ergab, also weniger als die titulierten 240,00 Euro. Seit Januar 2021 beträgt der Mindestunterhalt für den Antragsteller monatlich 338,25 Euro abzüglich eines hälftigen Kindergeldanteils in Höhe von 109,50 Euro, so dass sich seit Januar 2021 ein Zahlbetrag in Höhe von monatlich (338,25 Euro – 109,50 Euro =) 228,75 Euro ergibt, also auch weniger als die titulierten 240,00 Euro.

    Der Antragsteller lebt seit August 2020 in der Slowakei. Lebt das unterhaltsberechtigte Kind jedoch im Ausland, können die auf die Lebensverhältnisse in Deutschland bezogenen Bedarfssätze der Düsseldorfer Tabelle nicht unbesehen übernommen werden. Vielmehr ist bei der Bemessung des Bedarfs zu berücksichtigen, welchen Betrag unter Berücksichtigung der Kaufkraft und der Geldwertparität der Unterhaltsberechtigte an seinem Aufenthaltsort zur Deckung seines Bedarfs aufwenden muss. Für die danach erforderliche Umrechnung kann auf die Ländergruppeneinteilung der Länderübersicht des Bundesfinanzministeriums zu § 33a EStG (ab 01.01.2017 siehe BStBl I 2016, 1183 und ab 01.01.2021 siehe BStBl I 2020, 1212) zurückgegriffen werden (vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 09.12.2003 – 5 UF 110/03, FamRZ 2004, 729; OLG Koblenz, Urt. v. 09.06.2000 – 11 UF 499/99, FamRZ 2002, 56 ff.). Nach dieser Ländergruppeneinteilung belaufen sich die Lebenshaltungskosten in der Slowakei im Vergleich zu Deutschland auf 75%. Der Barunterhaltsbedarf des Antragstellers, der in die zweite Altersgruppe einzustufen ist, betrug daher bis Dezember 2020 (424,00 Euro * 75% =) 318,00 Euro und seit Januar 2021 (451,00 Euro * 75% =) 338,25 Euro.

    Nach § 1612b Abs. 1 Ziffer 1 BGB ist das auf das Kind entfallende Kindergeld zur Deckung seines Barbedarfs zu 50% zu verwenden, da die Mutter des Antragstellers ihre Unterhaltspflicht durch die Betreuung des Antragstellers erfüllt. Trotz des Bescheides der Familienkasse vom 11. August 2020 ist zu Lasten des Antragstellers davon auszugehen, dass seine Mutter für ihn bis Dezember 2020 ein Kindergeld in Höhe von insgesamt monatlich 204,00 Euro und seit Januar 2021 in Höhe von insgesamt 219,00 Euro beziehen könnte.

    Die unterhaltsrechtliche Gleichbehandlung beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme und Mitverantwortung im Unterhaltsrecht (§ 1618a BGB), so dass Unterhaltsberechtigte gegenüber dem Unterhaltspflichtigen auch verpflichtet sind, vorrangige Sozialleistungen zu beantragen und entsprechende Ansprüche gegebenenfalls auch durchzusetzen. Eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Leistungen führen (vgl. zur Grundsicherung: BGH, Beschl. v. 08.07.2015 – XII ZB 56/14, FamRZ 2015, 1467 ff. Rdnr. 11).

    Entgegen dem Bescheid der Familienkasse vom 11. August 2020 und entgegen dem Wortlaut des § 62 EStG ergibt sich aus den insoweit vorrangigen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009, dass die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Antragstellers trotz ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Slowakei unter Anrechnung des Kindergelds nach slowakischen Recht einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG bzw. § 1 BKGG hat, also die Differenz zwischen dem Kindergeld nach slowakischen Recht und dem nach deutschen Recht von der Familienkasse beanspruchen kann, so dass sie im Ergebnis ein Gesamtkindergeld in Höhe des Kindergeldes nach deutschem Recht beziehen könnte.

    Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (VO Nr. 987/2009) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten -- insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt -- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH, Urt. v. 22.10.2015 – AZ: C-378/14, NJW 2016, 1147 ff.).

    Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (BFH, Urt. v. 23.08.2016 – AZ: V R 19/15, BFHE 254, 439 Rdnr. 11 f.; BFH, Urt. v. 04.02.2016, AZ: III R 17/13, BFHE 253, 134 Rdnr. 16 ff.).

    Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 243 FamFG.

    Rechtsbehelfsbelehrung

    ...

    Knoche