OLG Frankfurt vom 16.02.2012 (4 WF 224/11)

Stichworte: Geschäftsgebühr; Anrechnung, Geschäftsgebühr; Verfahrensgebühr;
Normenkette: RVG 15 a, 55 Abs. 5
Orientierungssatz: Eine Geschäftsgebühr wird nur dann auf die vom beigeordneten Rechtsanwalt gegenüber der Staatskasse geltend gemachte Verfahrensgebühr angerechnet, wenn die Geschäftsgebühr tatsächlich bezahlt worden ist.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In der Familiensache

hat der 4. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Beschwerde des Bevollmächtigten des Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Wetzlar vom 15.9.2011 am 16.02.2012 beschlossen:

In Abänderung des angefochtenen Beschlusses sind dem Beschwerdeführer aus der Staatskasse weitere 347,30 E zu erstatten.

Gründe:

Der Beschwerdeführer und der Vertreter der Staatskasse streiten um die Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr auf die im Rahmen der VKH - Beiordnung zu erstattenden Anwaltsgebühren. Der Beschwerdeführer wurde dem Antragsgegner in einem Unterhaltsverfahren, das mit einem Vergleichsabschluss endete, beigeordnet. Im Rahmen der Geltendmachung der VKH - Vergütung wies der Rechtspfleger des Amtsgerichts auf die Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr hin. Dem widersprach der Beschwerdeführer. Zahlungen auf die unstreitig außergerichtliche entstandene Geschäftsgebühr sind nicht erfolgt. Der Rechtspfleger des Amtsgerichts kürzte die beantragte Vergütung um die hälftige Geschäftsgebühr von 291,85 E plus Mehrwertsteuer. Gegen diese Kürzung wandte sich der Beschwerdeführer mit seiner Erinnerung vom 12.9.2011. Unter Hinweis auf die Vorschrift des § 55 Abs. 5 S. 2 RVG vertrat der Beschwerdeführer die Auffassung, dass nur tatsächlich erhaltene Zahlungen anzurechnen seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Erinnerung vom 12.9.2011 Bezug genommen. Mit Beschluss vom 15.9.2011 wies das Amtsgericht unter Berufung auf die Entscheidung des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, 18 W 3/10, die Erinnerung zurück. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 6.10.2011 Beschwerde ein und verwies nochmals auf § 55 RVG. Der Bezirksrevisor bei dem Landgericht Limburg/L. ist der Beschwerde entgegengetreten, ebenfalls unter Hinweis auf die Entscheidungen des Oberlandesgerichts, 18. Zivilsenat, sowie den dieser Entscheidung folgenden Entscheidungen des Landgerichts Limburg/L. und des Amtsgerichts Wetzlar. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme des Bezirksrevisors vom 11.11.2011 verwiesen. Mit Beschluss vom 13.02.2012 ist das Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung auf den Senat übertragen worden.

Die nach §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 und Abs. 7 S. 3 RVG zulässige Beschwerde gegen den die Erinnerung zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts vom 15.9.2011 ist in der Sache begründet und führt zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts und des Bezirksrevisors erfolgt eine Anrechnung in Höhe einer durch die vorgerichtliche Vertretung entstandenen hälftigen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nicht. Zwar ist dem Bezirksrevisor darin zuzustimmen, dass die allgemeinen Vorschriften zur Gebührenanrechnung und damit auch Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG auch für die Vergütung des im Wege der Verfahrenskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts durch die Staatskasse gelten (vgl. OLG Frankfurt, Beschlüsse vom 12.2.2010, 18 W 3/10, und 12.12.2011, 18 W 214/11, beide zitiert nach juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.7.2011, 6 W 55/10, MDR 2011, 1206 = JurBüro 2011, 580; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.5.2010, 2 WF 33/10, zitiert nach juris; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., § 15a, Rdnr. 15 m.w.N.). Zur Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf die vom beigeordneten Rechtsanwalt gegenüber der Staatskasse geltend gemachte Verfahrensgebühr führt dies aber nur, wenn die Geschäftsgebühr tatsächlich bezahlt worden ist (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Zweibrücken, a.a.O.; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22.3.2011, 2 W 18/11, FamRZ 2011, 1683; OLG Koblenz, Beschluss vom 27.1.2010, 7 WF 71/10, zitiert nach juris; Müller-Rabe, a.a.O., § 58, Rdnr. 36; Schneider in Schneider/Wolf, RVG, 5. Aufl., § 15a, Rdnr. 25; Kindermann, FPR 2010, 353; Enders, JurBüro 2009, 398; a.A. nach Inkrafttreten von § 15 a RVG - soweit ersichtlich - nur noch vertreten vom 18. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main sowie den darauf gestützten Entscheidungen des Landgerichts Limburg und des Amtsgerichts Wetzlar, die der Bezirksrevisor zitiert hat).

Der vom 18. Zivilsenat des Beschwerdegerichts vertretenen gegenteiligen Auffassung ist nur insoweit zuzustimmen, als - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - § 15a Abs. 2 RVG auf das Verhältnis zwischen dem beigeordneten Rechtsanwalt und der Staatskasse keine Anwendung findet. Die Staatskasse wird im Falle der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe gemäß § 45 Abs. 1 RVG unmittelbarer Gebührenschuldner und tritt insoweit an die Stelle des Mandanten; sie ist damit nicht Dritte im Sinne des § 15a Abs. 2 RVG. Im Übrigen kann der Entscheidung nicht gefolgt werden. Maßgeblich für die im Verhältnis zwischen Staatskasse und beigeordnetem Rechtsanwalt zu klärende Frage einer Anrechnung der vorprozessual entstandenen Geschäftsgebühr auf die prozessuale Verfahrensgebühr nach Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG ist nämlich die vom 18. Zivilsenat in den zitierten Entscheidungen offensichtlich übersehene, ebenfalls zum 5.8.2009 in Kraft getretene Bestimmung des § 15a Abs. 1 RVG. Danach kann der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern, wenn das Gesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere vorsieht, jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren. Die auf die vor Inkrafttreten des § 15a RVG ergangene Rechtsprechung des 8. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs gestützte Auffassung, die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG entstehe bei Vorliegen eines Anrechnungsfalls nach Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG von vornherein nur in gekürzter Höhe, ist mit dem klaren Wortlaut des § 15a Abs. 1 RVG nicht vereinbar. Vielmehr entstehen auch im Falle der Anrechnung einer Gebühr auf eine andere beide Gebühren in voller Höhe und können vom Rechtsanwalt in voller Höhe geltend gemacht werden.

Der Rechtsanwalt hat dabei die Wahl, welche Gebühr er fordert und - falls die Gebühren von unterschiedlichen Personen geschuldet werden - welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Ihm ist es lediglich verwehrt, insgesamt mehr als den Betrag zu verlangen, der sich aus der Summe der beiden Gebühren abzüglich des anzurechnenden Betrages ergibt. Die diesbezügliche "Klarstellung" seitens des Gesetzgebers ist als Folge der in Literatur und Rechtsprechung kritisierten Rechtsprechung insbesondere des 8. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zur Frage der Anrechnung erfolgt (vgl. BT-Drs. 16/12717 S. 58; so im Ergebnis inzwischen auch BGH, Beschlüsse vom 2. September 2009, II ZB 35/07, NJW 2009, 3101; 9. Dezember 2009, XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375; 3. Februar 2010, XII ZB 177/09, AGS 2010, 106; 11. März 2010, IX ZB 82/08, zitiert nach juris; 29. April 2010, V ZB 38/10, AGS 2010, 263; und 10.8.2010, VIII ZB 15/10, JurBüro 2011, 22; außerdem OLG Braunschweig, a.a.O.; OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.5.2011, 16 U 2 /10, AGS 2011, 320; Müller-Rabe, a.a.O., § 15a RVG, Rdnr. 8 u. 9; T. Schmidt in jurisPK-BGB, Band 4, 5. Aufl., Kostenrechtliche Hinweise in Familiensachen, Teil 6, Rdnr. 20ff; von Seltmann in BeckOK RVG, Stand 15.11.2011, Vorbemerkung 3, Rdnr. 8ff).

Unter Berücksichtigung des ebenfalls zum 5.8.2009 in Kraft getretenen § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG hat dies zur Folge, dass die Staatskasse sich im Rahmen der Festsetzung der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts auf eine Anrechnung der vorprozessual angefallenen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr allenfalls dann berufen kann, wenn die Geschäftsgebühr tatsächlich gezahlt worden ist. Nach § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG hat der Festsetzungsantrag des beigeordneten Rechtsanwalts die Erklärung zu enthalten, ob und welche Zahlungen der Rechtsanwalt bis zum Tag der Antragstellung erhalten hat. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs stehen dem Urkundsbeamten damit für die Festsetzung der Vergütung alle Daten zur Verfügung, die er benötigt, um zu ermitteln, in welchem Umfang die Zahlung auf die anzurechnende Gebühr nach § 58 Abs. 1 und 2 RVG als Zahlung auf die festzusetzende Gebühr zu behandeln ist (vgl. BT-Drs. 16/12717 S. 59). Die Vorschrift und ihre Begründung würden keinen Sinn ergeben, wenn eine Anrechnung auf die festzusetzende Gebühr auch in anderen Fällen als dem der Zahlung erfolgen würde. Die gesetzlich vorgeschriebenen Angaben im Festsetzungsantrag würden den Urkundsbeamten - anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt - nicht in die Lage versetzen, die festzusetzende Vergütung zu ermitteln (so auch OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.). Soweit der Bezirksrevisor darauf verweist, dass auf entsprechende Nachfrage anzugeben ist, ob eine Geschäftsgebühr entstanden ist, vermag dies keine andere Sichtweise zu rechtfertigen. Aus der grundsätzlich immer bestehenden Befugnis zur Nachfrage folgt lediglich, dass Unklarheiten oder mögliche versehentliche Auslassungen aufgeklärt werden können, nicht jedoch, dass eine Anrechnung auch einer nicht gezahlten Geschäftsgebühr zu erfolgen hat. Durch die Regelung des § 15a RVG i.V.m. § 55 RVG in der Fassung ab 5.8.2009 wollte der Gesetzgeber, dem die Problematik bekannt war, vielmehr eindeutig zum Ausdruck bringen, das lediglich gezahlte Geschäftsgebühren anzurechnen sind. Eine "Schonung der Staatskasse", wie sie von Seiten des Bezirksrevisors als wünschenswert angesehen wird, kann jedenfalls aus den gesetzlichen Vorschriften nicht entnommen werden.

Mangels erfolgter Zahlung auf die vorprozessual entstandene Geschäftsgebühr hat somit eine Anrechnung nicht statt zu finden. Dem Beschwerdeführer ist die ungekürzte Verfahrensgebühr aus der Staatskasse zu vergüten, weshalb der sich aus dem Tenor ergebende Betrag von der Staatskasse über die bereits ausgezahlte Vergütung noch weiter auszuzahlen ist. Die Frage, ob eine vom Mandanten gezahlte Geschäftsgebühr in voller Höhe auf die Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts nach § 49 RVG oder zunächst auf die Differenz zwischen dieser Vergütung und der Wahlanwaltsvergütung nach § 13 RVG anzurechnen ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Klärung, da eine Zahlung nicht erfolgt ist.

Im Hinblick auf die gesetzliche Regelung in § 56 Abs. 2 S. 2, 3 RVG ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst.

Eine Rechtsbeschwerde ist nicht vorgesehen (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).

Diehl Fischer Schmidt