OLG Frankfurt vom 20.03.2012 (4 WF 204/11)

Stichworte: Verfahrenskostenhilfe, Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts aus der Staatskasse, Anrechnung vorprozessualer Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr;
Normenkette: RVG 15a, 49, 55 Abs. 5 Satz 2; VV RVG Nr.2300, Nr. 3100, Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4;
Orientierungssatz: Eine Anrechnung der vorpozessual entstandenen Geschäftsgebühr auf die dem beigeordneten Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu vergütende Verfahrensgebühr erfolgt nur, wenn die Geschäftsgebühr vom Mandanten tatsächlich bezahlt worden ist.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In der Familiensache

hat der 4. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Beschwerde des dem Antragsgegner beigeordneten Rechtsanwalts gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Wetzlar - vom 25.8.2011 am 20.3.2012 beschlossen:

Der angefochtene Beschluss wird abgeändert.

Auf die Erinnerung des Beschwerdeführers vom 28.6.2011 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Wetzlar vom 1.6.2011 dahingehend abgeändert, dass die dem Beschwerdeführer aus der Staatskasse zu erstattende Vergütung auf den beantragten Betrag von 981,75 Euro festgesetzt wird.

Gründe:

I. Der Beschwerdeführer ist dem Antragsgegner im Rahmen der diesem gegen Ratenzahlung bewilligten Verfahrenskostenhilfe mit Beschluss des Amtsgerichts vom 14.1.2011 in der dort anhängigen, mittlerweile durch gerichtlichen Vergleich vom 12.5.2011 erledigten Unterhaltssache beigeordnet worden. Der Beschwerdeführer hatte den Antragsgegner wegen der von der Antragstellerin erhobenen Unterhaltsforderungen bereits in dem vorprozessual gewechselten Schriftverkehr vertreten. Die hierfür fällige Geschäftsgebühr ist vom Antragsgegner bislang nicht bezahlt worden, was der Beschwerdeführer in seinem Antrag auf Festsetzung der ihm aus der Staatskasse zu ersetzenden Vergütung vom 16.5.2011 auch so angegeben hat. Dennoch hat die insoweit als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle handelnde Rechtspflegerin des Amtsgerichts die im Übrigen zutreffend beantragte Vergütung mit dem Festsetzungsbeschluss vom 1.6.2011 lediglich in Höhe eines um 243,75 Euro zuzüglich Umsatzsteuer gekürzten Betrags, also in Höhe von 691,69 Euro statt der beantragten 981,75 Euro, festgesetzt. Zur Begründung hat sie unter Berufung auf die diesbezügliche Rechtsprechung des 18. Zivilsenats des Beschwerdegerichts ausgeführt, auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG i. V. m. § 49 RVG sei gemäß Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG die für das vorgerichtliche Tätigwerden des Beschwerdeführers angefallene Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG i. V. m. § 13 RVG zur Hälfte anzurechnen. Die Anrechnung sei vorzunehmen, sobald die Geschäftsgebühr entstanden sei, unabhängig davon, ob sie gerichtlich geltend gemacht oder bezahlt oder tituliert worden sei.

Gegen den ihm am 15.6.2011 zugestellten Festsetzungsbeschluss hat der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 28.6.2011, beim Amtsgericht eingegangen am 29.6.2011, Erinnerung eingelegt, mit welcher er eine antragsgemäße Festsetzung seiner Vergütung ohne die vorgenommene Kürzung begehrt. Nach Einholung einer Stellungnahme des Bezirksrevisors und Nichtabhilfe durch die Rechtspflegerin hat der Richter des Amtsgerichts die Erinnerung mit dem angefochtenen Beschluss vom 25.8.2011 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er unter Berufung auf die diesbezügliche Rechtsprechung des 18. Zivilsenats des Beschwerdegerichts und die noch vor Inkrafttreten des § 15a RVG ergangene Rechtsprechung des 8. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ausgeführt, die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG i. V. m. § 49 RVG sei wegen der nach Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorzunehmenden Anrechnung von vornherein nur in der um die halbe Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG i. V. m. § 13 RVG gekürzten Höhe entstanden. Die Anrechnungsvorschrift des § 15a Abs. 2 RVG finde im Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und der Staatskasse keine Anwendung, weil die Staatskasse nicht Dritter im Sinne dieser Vorschrift sei.

Gegen den ihm am 31.8.2011 zugestellten Beschluss richtet sich die am 5.9.2011 eingegangene sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers, mit welcher dieser sein Erinnerungsbegehren weiter verfolgt. Er trägt vor, aus § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG ergebe sich, dass eine Anrechnung der vorprozessual entstandenen halben Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nur dann erfolgt, wenn die Geschäftsgebühr bezahlt worden ist. Auch in diesem Fall sei sie aber jedenfalls im Falle der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe gegen Ratenzahlung zunächst auf die Differenz zwischen der Wahlanwaltsvergütung nach § 13 RVG und der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts nach § 49 RVG anzurechnen.

Der Richter des Amtsgerichts hat der Beschwerde unter Bezugnahme auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung nicht abgeholfen und sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Der Einzelrichter des Senats hat die Sache mit Beschluss vom 7.2.2012 wegen grundsätzlicher Bedeutung auf den Senat zur Entscheidung übertragen.

Dem Bezirksrevisor ist im Beschwerdeverfahren rechtliches Gehör gewährt worden. Er verteidigt die Rechtsprechung des 18. Zivilsenats des Beschwerdegerichts.

II.

Die Beschwerde ist nach §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 3 RVG zulässig als Beschwerde gegen den die Erinnerung zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts vom 25.8.2011. Soweit die Formulierung "wir" im Rahmen der Beschwerdeeinlegung auf eine Beschwerdeeinlegung aller Sozien der Kanzlei des beigeordneten Rechtsanwalts hindeutet, ist dies unschädlich, weil unzweifelhaft jedenfalls auch der beschwerdebefugte Beschwerdeführer im eigenen Namen Beschwerde eingelegt hat.

In der Sache ist die Beschwerde begründet und führt zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung über die Erinnerung vom 28.6.2011.

Die nach §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 7 Satz 3 RVG zulässige Erinnerung gegen den Festsetzungsbeschluss vom 1.6.2011 ist begründet, weshalb die dem Beschwerdeführer aus der Staatskasse zu erstattende Vergütung unter Abänderung des Beschlusses vom 1.6.2011 antragsgemäß festzusetzen ist. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf Vergütung (auch) in Höhe einer 1,3-fachen Verfahrensgebühr nach §§ 45 Abs. 1, 49, 2 Abs. 2 Satz 1 RVG, 2 Abs. 2 Satz 1 RVG, Nr. 3100 VV RVG ist nicht in Höhe einer durch die vorgerichtliche Vertretung des Antragsgegners entstandenen hälftigen Geschäftsgebühr nach §§ 13, 2 Abs. 2 Satz 1 RVG, Nr. 2300 VV RVG erloschen.

Zwar gelten die allgemeinen Vorschriften zur Gebührenanrechnung und damit auch Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG auch für die Vergütung des im Wege der Verfahrenskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts durch die Staatskasse (vgl. OLG Frankfurt, Beschlüsse vom 12.2.2010, 18 W 3/10, und 12.12.2011, 18 W 214/11, beide zitiert nach juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.7.2011, 6 W 55/10, MDR 2011, 1206 = JurBüro 2011, 580; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.5.2010, 2 WF 33/10, zitiert nach juris; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., § 15a, Rdnr. 15 m.w.N.). Zur Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf die vom beigeordneten Rechtsanwalt gegenüber der Staatskasse geltend gemachte Verfahrensgebühr führt dies aber nur, wenn die Geschäftsgebühr tatsächlich bezahlt worden ist (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Zweibrücken, a.a.O.; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22.3.2011, 2 W 18/11, FamRZ 2011, 1683; OLG Koblenz, Beschluss vom 27.1.2010, 7 WF 71/10, zitiert nach juris; Müller-Rabe, a.a.O., § 58, Rdnr. 36; Schneider in Schneider/Wolf, RVG, 5. Aufl., § 15a, Rdnr. 25; Kindermann, FÜR 2010, 353; Enders, JurBüro 2009, 398; eine andere Ansicht vertritt - soweit ersichtlich - nur der 18. Zivilsenat des Beschwerdegerichts in den beiden oben zitierten Entscheidungen).

Der vom 18. Zivilsenat des Beschwerdegerichts vertretenen gegenteiligen Auffassung ist nur insoweit zuzustimmen, als § 15a Abs. 2 RVG, der eine Berufung der Staatskasse auf die Anrechnung im Falle einer Zahlung der Geschäftsgebühr durch den Mandaten des beigeordneten Rechtsanwalts ohnehin nicht zuließe, auf das Verhältnis zwischen dem beigeordneten Rechtsanwalt und der Staatskasse keine Anwendung findet. Die Staatskasse wird im Falle der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 RVG unmittelbarer Gebührenschuldner und tritt insoweit an die Stelle des Mandanten; sie ist damit nicht Dritter im Sinne des § 15a Abs. 2 RVG.

Maßgeblich für die im Verhältnis zwischen Staatskasse und beigeordnetem Rechtsanwalt zu klärende Frage einer Anrechnung der vorprozessual entstandenen Geschäftsgebühr auf die prozessuale Verfahrensgebühr nach Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG ist vielmehr die vom 18. Zivilsenat in den zitierten Entscheidungen offensichtlich übersehene, ebenfalls zum 5.8.2009 in Kraft getretene Bestimmung des § 15a Abs. 1 RVG. Danach kann der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern, wenn das Gesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere vorsieht, jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren.

Die auf die vor Inkrafttreten des § 15a RVG ergangene Rechtsprechung des 8. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs gestützte Auffassung, die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG entstehe bei Vorliegen eines Anrechnungsfalls nach Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG von vornherein nur in gekürzter Höhe, ist mit dem klaren Wortlaut des § 15a Abs. 1 RVG nicht vereinbar. Vielmehr entstehen auch im Fall der Anrechnung einer Gebühr auf eine andere beide Gebühren in voller Höhe und können vom Rechtsanwalt in voller Höhe geltend gemacht werden. Der Rechtsanwalt hat die Wahl, welche Gebühr er fordert und - falls die Gebühren von unterschiedlichen Personen geschuldet werden - welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Ihm ist es lediglich verwehrt, insgesamt mehr als den Betrag zu verlangen, der sich aus der Summe der beiden Gebühren abzüglich des anzurechnenden Betrags ergibt. Die diesbezügliche "Klarstellung" seitens des Gesetzgebers ist als Folge der in Literatur und Rechtsprechung kritisierten Rechtsprechung insbesondere des 8. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zur Frage der Anrechnung erfolgt (vgl. BT-Drs. 16/12717 S. 58; so im Ergebnis inzwischen auch BGH, Beschlüsse vom 2.9. 2009, II ZB 35/07, NJW 2009, 3101; 9.12.2009, XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375; 3.2.2010, XII ZB 177/09, AGS 2010, 106; 11.3.2010, IX ZB 82/08, zitiert nach juris; 29.4.2010, V ZB 38/10, AGS 2010, 263; und 10.8.2010, VIII ZB 15/10, JurBüro 2011, 22 = VersR 2011, 283; außerdem OLG Braunschweig, a.a.O.; OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.5.2011, 16 U 2 /10, AGS 2011, 320; Müller-Rabe, a.a.O., § 15a RVG, Rdnr. 8, 9; T. Schmidt in jurisPK-BGB, Band 4, 5. Aufl., Kostenrechtliche Hinweise in Familiensachen, Teil 6, Rdnr. 20ff; von Seltmann in BeckOK RVG, Stand 15.11.2011, Vorbemerkung 3, Rdnr. 8ff).

Im Hinblick auf den ebenfalls zum 5.8.2009 in Kraft getretenen § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG hat dies zur Folge, dass die Staatskasse sich im Rahmen der Festsetzung der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts auf eine Anrechnung der vorprozessual angefallenen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr allenfalls dann berufen kann, wenn die Geschäftsgebühr tatsächlich bezahlt worden ist. Nach § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG hat der Festsetzungsantrag des beigeordneten Rechtsanwalts die Erklärung zu enthalten, ob und welche Zahlungen der Rechtsanwalt bis zum Tag der Antragstellung erhalten hat. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs stehen dem Urkundsbeamten damit für die Festsetzung der Vergütung alle Daten zur Verfügung, die er benötigt, um zu ermitteln, in welchem Umfang die Zahlungen auf die anzurechnende Gebühr nach § 58 Abs. 1 und 2 RVG als Zahlung auf die festzusetzende Gebühr zu behandeln sind (vgl. BT-Drs. 16/12717 S. 59). Die Vorschrift und ihre Begründung würden - worauf der Beschwerdeführer zu Recht hinweist - keinen Sinn ergeben, wenn eine Anrechnung auf die festzusetzende Gebühr auch in anderen Fällen als dem der Zahlung erfolgen würde. Diese müssten vom Urkundsbeamten dann erst abgefragt werden; die gesetzlich vorgeschriebenen Angaben im Festsetzungsantrag würden ihn - anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt - nicht in die Lage versetzen, die festzusetzende Vergütung zu ermitteln (so auch OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.).

Dem mit den Anrechnungsvorschriften verfolgten Zweck der Vermeidung einer dolten Vergütung des Rechtsanwalts für sich entsprechende außergerichtliche und gerichtliche Tätigkeiten wird für andere Anrechnungsfälle als den der bereits erfolgten Zahlung durch die Forderungssperre des § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO genügt. Sie könnte dem Rechtsanwalt von seinem Mandanten im Wege der Vollstreckungsabwehrklage sogar gegen einen bereits vor der Festsetzung der Vergütung aus der Staatskasse titulierten Gebührenanspruch entgegen gehalten werden.

Ein mit den Anrechnungsvorschriften bezweckter Schutz der Staatskasse lässt sich weder dem Wortlaut oder der Systematik der Vorschriften noch ihrer Entstehungsgeschichte oder den Gesetzesmaterialien entnehmen. Sind auf die gewährte Verfahrenskostenhilfe von deren Empfänger wie hier Raten zu zahlen, steht eine Schädigung der Staatskasse ohnehin nicht zu befürchten.

Mangels erfolgter Zahlung des Antragsgegners auf die vorprozessual entstandene Geschäftsgebühr ist dem Beschwerdeführer gemäß vorstehender Ausführungen die ungekürzte Verfahrensgebühr aus der Staatskasse zu vergüten, weshalb die Vergütung antragsgemäß festzusetzen ist. Die Frage ob eine vom Mandanten gezahlte Geschäftsgebühr in voller Höhe auf die Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts nach § 49 RVG oder zunächst auf die Differenz zwischen dieser Vergütung und der Wahlanwaltsvergütung nach § 13 RVG anzurechnen ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Klärung.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das Verfahren ist kraft gesetzlicher Anordnung gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2, 3 RVG).

Eine Rechtsbeschwerde ist nicht vorgesehen (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).

Fischer Buda-Roß Schmidt