OLG Frankfurt vom 03.05.2023 (4 UF 19/23)

Stichworte: Gesundheitssorge; Vorsorgeuntersuchung, U-Untersuchung; Kindeswohl, Risikoeinschätzung; Abänderung
Normenkette: BGB 1666, 1666a; BGB 1696; FamFG 166 Abs. 3; SGB VIII 8a
Orientierungssatz:
  • Informiert das Jugendamt nach seinem Ermessen das Familiengericht über unterlassene Vorsorgeuntersuchungen (§ 8a SGB VIII), ist dieses zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob gerichtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB geboten sind (vgl. OLG Frankfurt ZKJ 2014, 31).
  • Die Versäumung der Teilnahme an U-Untersuchungen für ein Kind rechtfertigt allein noch keine familiengerichtlichen Maßnahmen zum Schutz des Kindes vor einer möglichen Gefährdung.
  • Etwaige gerichtliche Maßnahmen sind nicht zur Durchsetzung oder zum Nachweis der Vorsorgeuntersuchung anzuordnen, sondern müssen erforderlich sein, um eine Risikoeinschätzung zu ermöglichen.
  • 611 F 60/23
    AG Wetzlar

    Oberlandesgericht Frankfurt am Main

    B E S C H L U S S

    In der Familiensache

    betreffend die elterliche Sorge

    hat der 4. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die undatierte Beschwerde der Mutter – Eingang bei Gericht am 27.01.2023 – gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Wetzlar vom 19.01.2023 am 3. Mai 2023 beschlossen:

    Der angefochtene Beschluss wird abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    Von der Ergreifung familiengerichtlicher Maßnahmen in Bezug auf die elterliche Sorge für die beiden A, geb. am … 2017, und B, geb. am … 2019, wird abgesehen.

    Die nach § 166 Abs. 3 FamFG in regelmäßigen Abständen durchzuführende Überprüfung der Entscheidung erfolgt durch das örtlich zuständige Familiengericht.

    Von der Erhebung von Gerichtskosten und der Anordnung einer Kostenerstattung der Beteiligten untereinander wird für beide Rechtszüge abgesehen.

    Der Verfahrenswert für den zweiten Rechtszug wird festgesetzt auf 4.000 €.

    Gründe:

    I.

    Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrem Rechtsmittel gegen die Entziehung der Gesundheitssorge für ihre beiden Töchter A (5 Jahre) und B (3 Jahre).

    Mit dem angefochtenen Beschluss vom 19.01.2023 entzog das Familiengericht der allein sorgeberechtigten Mutter die elterliche Sorge mit dem Teilbereich der Gesundheitssorge für beide Kinder und übertrug sie auf das Jugendamt … als Pfleger. Wegen des zu Grunde liegenden Sachverhalts wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Beschluss Bezug genommen. Seine Entscheidung begründete das Familiengericht unter Bezugnahme auf §§ 1666, 1666a BGB im Wesentlichen mit der verzögerten und zuletzt gänzlich unterbliebenen Vorführung der beiden Mädchen zur Durchführung der gesetzlich vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt. Bereits in den Vorjahren hatte die Mutter mehrere der erforderlichen Untersuchungen versäumt, was 2021 in einem vor dem Familiengericht geführten Parallelverfahren (Az. … SO) die mit dortigem Beschluss vom 24.04.2022 erfolgte Weisung an sie zur Folge hatte, die Untersuchungen künftig zum Fälligkeitszeitpunkt durchzuführen und sich monatlich beim Jugendamt zu melden.

    Zur Begründung ihrer am 27.01.2023 beim Amtsgericht eingegangenen Beschwerde gegen den ihr am 25.01.2023 zugestellten Beschluss trägt die Mutter im Wesentlichen vor, dass sie sich für die versäumten Untersuchungen entschuldige. Sie sei wegen einer Erkrankung ihres Vaters nicht in der Lage gewesen, diese rechtzeitig durchführen zu lassen, habe sie inzwischen aber nachgeholt.

    Ergänzend wird auf den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung und der von den Beteiligten in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der beigezogenen Akte des Amtsgerichts – Familiengericht – Wetzlar zu Az. … SO verwiesen.

    Der Senat hat Mutter und Kinder am 3. Mai 2023 persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf den Vermerk über die Anhörung der Kinder und die Sitzungsniederschrift vom selben Datum Bezug genommen.

    II.

    Die nach §§ 58 ff. FamFG zulässige Beschwerde der Mutter hat auch in der Sache Erfolg. Unter teilweiser Abänderung des familiengerichtlichen Beschlusses vom 24.04.2022 zu Az. 611 F 55/21 SO (§ 1696 BGB) war die Feststellung zu treffen, dass die beiden Kinder betreffende familiengerichtliche Maßnahmen nicht veranlasst sind.

    Ein Entzug der elterlichen Sorge mit dem Teilbereich der Gesundheitssorge für beide betroffene Kinder ist weder erforderlich, noch im engeren Sinne angemessen. Das Wohl der Kinder wird durch die verspätet durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen nicht gefährdet, familiengerichtliche Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB sind nicht veranlasst.

    Das für die Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen maßgebliche Hessische Kinderschutzgesetz verzichtet auf eine zwangsweise Durchsetzung der Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen (vgl. Drs. 16/7796 des Hessischen Landtages, S. 6) und begründet lediglich einen Gefahrerforschungsauftrag für das Jugendamt; die Versäumung der Teilnahme alleine rechtfertigt also noch keine familiengerichtlichen Maßnahmen zum Schutz der Kinder vor einer möglichen Gefährdung (vgl. OLG Frankfurt ZKJ 2014, 31; AG Büdingen JAmt 2013, 160; Mortsiefer NJW 2014, 3543, 3546). Informiert allerdings das Jugendamt das Familiengericht über unterlassene Vorsorgeuntersuchungen (§ 8a SGB VIII), ist dieses zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob gerichtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB geboten sind (vgl. OLG Frankfurt aaO.). Dabei unterliegt die Frage, ob das Jugendamt ein Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich hält, gem. § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII alleine seinem fachlichen Ermessen (vgl. Senat FamRZ 2022, 1530; Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 17 mwN.). Eine Prüfung der Begründetheit der Meldung steht dem Familiengericht nicht zu, es hat auf diese hin vielmehr in eigener Zuständigkeit Ermittlungen vorzunehmen (vgl. Senat aaO.).

    Diese Ermittlungen führen vorliegend allerdings zu dem Ergebnis, dass keine familiengerichtlichen Maßnahmen veranlasst sind. Zunächst kann eine relevante Kindeswohlgefährdung nicht alleine damit begründet werden, dass fällige Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt wurden bzw. keine entsprechende Meldung an das Hessische Kindervorsorgezentrum erfolgt ist. Wegen einer in diesem Zusammenhang erfolgten Mitteilung nach § 8a SGB VIII sind daher nicht Maßnahmen zur Durchsetzung oder zum Nachweis der Vorsorgeuntersuchung anzuordnen, sondern nur solche Maßnahmen, die erforderlich sind, um eine Risikoeinschätzung zu ermöglichen (vgl. OLG Frankfurt ZKJ 2014, 31).

    Dieser bedarf es jedoch dann nicht (mehr), wenn eine hinreichende Grundlage für die Risikoeinschätzung vorhanden ist. Eine solche Grundlage liegt inzwischen im Hinblick auf die ärztliche Mitteilung vor, die U-Untersuchungen seien durchgeführt worden; auch ergibt sich aus den dem Senat von der Mutter im Original im Termin vorgelegten Vorsorgeuntersuchungs-Heften, dass der gesundheitliche Zustand der Kinder unauffällig ist. Der persönliche Eindruck, den der Senat im Rahmen der von ihm durchgeführten Anhördung von beiden Kindern gewinnen konnte, lässt keinen anderen Schluss zu: Beide Kinder wirkten äußerlich gesund, ausreichend ernährt, ordentlich gekleidet und altersangemessen selbstbewusst, offen und kommunikativ. Auch der Ergänzungspfleger hat auf Nachfrage von seinen Hausbesuchen berichtet, dass sich dort keine Hinweise auf familiäre und erzieherische Defizite oder auf eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls ergeben hätten. Danach besteht für den Senat kein Grund zur Besorgnis, die Mutter würde die Gesundheitssorge vernachlässigen, weshalb als Ergebnis der – jetzt ohne Maßnahmen gegen die Mutter möglich gewordenen – Risikoeinschätzung festgestellt werden kann, dass es sorgerechtlicher Maßnahmen nicht bedarf. Diese Feststellung umfasst auch die Aufhebung der der Mutter mit familiengerichtlichem Beschluss vom 24.04.2022 erteilten Weisungen (§ 1696 BGB).

    Soweit das Jugendamt demgegenüber zunächst die Ansicht vertreten hat, die Mutter werde nur unter Druck aktiv und erledige nur dann die ihr obliegende Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen, gilt zum einen, dass bei A keine weiteren Vorsorgeuntersuchungen anstehen, zum anderen, dass Förderung, Unterstützung und Hilfe für die Mutter bei Erfüllung der von ihr vernachlässigten Aufgaben zu den originären Aufgaben des Jugendamts nach §§ 16 ff. SGB VIII zählen und daher ebenfalls keinen Eingriff in die elterliche Sorge rechtfertigen.

    Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 und 3, 83 Abs. 2, 84 FamFG. Angesichts des in Befolgung seines gesetzlichen Auftrags und im besten Interesse der Kinder erfolgten Gefahrenmeldung des Jugendamts nach § 8a Abs. 2 SGB VIII einerseits, des Erfolgs des von der Mutter eingelegten Rechtsmittels andererseits entspricht es billigem Ermessen, von der Erhebung von Gerichtskosten und der Anordnung einer Kostenerstattung abzusehen.

    Die Wertfestsetzung folgt aus §§ 55 Abs. 2, 40 Abs. 1 und 2, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.

    Da die Sache weder eine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Bedeutung aufweist noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern, ist die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen (§ 70 Abs. 2 FamFG).

    Reitzmann Dr. Schweppe Dr. Kischkel