OLG Frankfurt vom 15.09.2022 (4 UF 121/22)

Stichworte: Versorgungsausgleich, schuldrechtlich; Gesetzliche Rente; Grundrente; Ausgleichsreife
Normenkette: VersAusglG 2; VersAusglG 19; FamFG 224 Abs. 4; SGB VI 76g Abs. 4; SGB VI 97a; SGB VI 120f
Orientierungssatz:
  • Zuschläge an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung nach § 76g SGB VI (sog. Grundrente) unterliegen grundsätzlich als Anrechte im Sinne des § 2 VersAusglG dem Versorgungsausgleich (entgegen OLG Frankfurt – 6 UF 108/22).
  • Ob § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG (fehlende Ausgleichsreife wegen Unwirtschaftlichkeit des Ausgleichs) zur Anwendung gelangt (vgl. OLG Frankfurt – 7 UF 4/22 und 2 UF 83/22), bedarf keiner Entscheidung, wenn der maßgebliche Grenzwert des § 97a Abs. 4 S. 3 SGB VI für die Vollanrechnung von Grundrenten-Entgeltpunkten beim Rentenbeginn des ausgleichsberechtigen Ehegatten nicht überschritten werden wird.
  • 73 F 513/21
    AG Groß-Gerau

    Oberlandesgericht Frankfurt am Main

    B E S C H L U S S

    In der Familiensache …

    hat der 4. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die vom 06.06.2021 datierende Beschwerde des Antragstellers (Eingang beim Amtsgericht am 06.06.2022) und die Beschwerde des Versorgungsträgers Deutsche Rentenversicherung … vom 05.07.2022 gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Groß-Gerau vom 16.05.2022 am 15. September 2022 beschlossen:

    Unter Zurückweisung der weitergehenden Beschwerde des Antragstellers wird die angefochtene Entscheidung abgeändert und durch Einfügung eines neuen sechsten Absatzes unter Ziffer I. des Beschlusstenors wie folgt ergänzt:

    Ferner wird zu Lasten des Anrechts der früheren Ehefrau bei der Deutschen Rentenversicherung … (Vers.-Nr. …) im Wege der internen Teilung zu Gunsten des früheren Ehemanns ein Anrecht in Höhe von 0,6032 Entgeltpunkten für langjährige Versicherung in der allgemeinen Rentenversicherung (Grundrente) auf dessen Versicherungskonto bei der Deutschen Rentenversicherung … (Vers.-Nr. …), bezogen auf den … .2004, übertragen.

    Im Übrigen bleibt es bei dem im angefochtenen Beschluss angeordneten Versorgungsausgleich.

    Von der Erhebung von Gerichtskosten sowie der Anordnung einer Kostenerstattung der Beteiligten untereinander wird für den zweiten Rechtszug abgesehen. Hinsichtlich der Kosten des ersten Rechtszugs bleibt es bei der Kostenentscheidung im angefochtenen Beschluss.

    Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

    Gründe:

    I.

    Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist zum einen die Prüfung der Abänderung eines im vorausgegangenen Ehescheidungsverfahren durchgeführten Versorgungsausgleichs im Wege der Totalrevision nach § 51 VersAusglG, zum anderen die in diesem Rahmen erfolgte Durchführung des Versorgungsausgleichs hinsichtlich eines bei der Beschwerdeführerin zu 2) bestehenden Anrechts der Antragsgegnerin aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Grundrente).

    Die am …1978 geschlossene Ehe des Antragstellers und der Antragsgegnerin wurde auf den am …2004 zugestellten Antrag hin mit Urteil des Amtsgerichts vom … 2005 geschieden und der Versorgungsausgleich durchgeführt. Mit vom … 2022 datierenden, bei Gericht jedoch bereits am … 2022 eingegangenen Schreiben beantragte der Antragsteller im Hinblick auf die seiner früheren Ehefrau inzwischen bewilligte Mütterrente die Anpassung des Versorgungsausgleichs nach „Paragraph 225 des Familiengesetzes“.

    Nach Einholung aktueller Auskünfte der beteiligten Versorgungsträger nahm das Familiengericht mit der angefochtenen Entscheidung vom 16.05.2022 im Wege der Totalrevision nach § 51 Abs. 1 VersAusglG die begehrte Abänderung vor, übersah dabei aber, dass der Versorgungsträger der Antragsgegnerin in seiner Auskunft vom ...2022 auch angegeben hatte, dass die Antragsgegnerin einen auf die Ehezeit bezogenen Grundrentenzuschlag von 1,2064 Entgeltpunkten erworben hat. Auf die Entscheidung im Übrigen wird verwiesen.

    Mit einem vom … 2021 datierenden, beim Amtsgericht aber erst am … 2022 eingegangenen weiteren Schreiben bat der Antragsteller um Überprüfung der ihm am … 2022 zugestellten Entscheidung, weil darin nach seinem Dafürhalten die Anrechnung der Kindererziehungszeiten fehle. Ferner legte die Deutsche Rentenversicherung … mit am selben Tag bei dem Amtsgericht eingegangenen Schreiben vom … 2022 Beschwerde gegen den ihr am … 2022 zugestellten Beschluss ein und rügte, dass darin die von der Antragsgegnerin erworbenen Entgeltpunkte für langjährige Versicherung nicht berücksichtigt worden seien.

    Der Senatsberichterstatter hat mit Verfügung vom 12.08.2022 Hinweise zur Sache erteilt, auf die die davon betroffenen Beteiligten reagiert haben. Auf den Inhalt ihrer jeweiligen Stellungnahmen wird verwiesen.

    II.

    Vorab war das Schreiben des Antragstellers vom … 2022 gem. §§ 133, 157 BGB als Beschwerde gegen die familiengerichtliche Entscheidung vom 16.05.2022 auszulegen. Mit der Rüge inhaltlicher Mängel und der Bitte um Überprüfung hat der Antragsteller zu erkennen gegeben, dass er gegen die ihn vermeintlich belastende Entscheidung des Familiengerichts das statthafte Rechtsmittel – die Beschwerde – einlegen will.

    Die nach §§ 58 ff. FamFG statthaften und auch sonst zulässigen Rechtsmittel des Antragstellers und des Versorgungsträgers Deutsche Rentenversicherung … sind auch in der Sache (hinsichtlich des Antragstellers: zumindest teilweise) begründet und führen zu der aus dem Tenor ersichtlichen Abänderung der angefochtenen Entscheidung.

    Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde allerdings rügt, das Familiengericht habe bei der Abänderung des amtsgerichtlichen Ausspruchs zum Versorgungsausgleich aus dem Jahre 2005 nicht die inzwischen von seiner früheren Frau bezogene Mütterrente berücksichtigt, unterliegt er einem Irrtum. Das Familiengericht hat sich bei seiner Entscheidung zutreffend auf die von der Deutsche Rentenversicherung … erteilte Auskunft vom … 2022 bezogen, in deren Anhang der Versicherungsverlauf der Antragsgegnerin dargestellt wird. Darin wiederum finden sich, beginnend mit dem … 1984 (der Geburt des ersten Kindes der Beteiligten), „Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung“, d. h. die wegen der Kindererziehung erworbenen Ansprüche der Antragsgegnerin auf Zahlung der sog. „Mütterrente“, und zwar in der sich aus § 249 Abs. 1 SGB VI ergebenden Höhe. Diese Ansprüche sind mit der angefochtenen Entscheidung auch bedenkenfrei ausgeglichen worden.

    Das in der familiengerichtlichen Entscheidung übersehene Anrecht der Antragsgegnerin auf einen Grundrentenzuschlag allerdings war auf die beiden Rechtsmittel hin nach § 10 Abs. 1 VersAusglG intern zu teilen. Im Hinblick auf die mit Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes vom 12.08.2020 (BGBl. I 1879, sog. Grundrentengesetz) mit Wirkung zum 01.01.2021 eingefügten §§ 76g, 307e, 307f SGB VI sind Anrechte aus langjähriger Versicherung in der allgemeinen Rentenversicherung gem. § 120f Abs. 2 Nr. 3 SGB VI im Versorgungsausgleich gesondert auszuweisen und auszugleichen (OLG Koblenz FamRB 2022, 256; OLG Nürnberg FamRZ 2022, 1353; OLG Braunschweig FamRZ 2022, 1354; ebenso Senat, Beschl. v. 6.7.2022 – 4 UF 111/22, BeckRS 2022, 18544; Wick FuR 2021, 78, 79; BeckOGK/Kischkel, 1.8.2022, VersAusglG § 39 Rn. 149, 162 ff.; RegE, BT-Drucks. 19/18473, S. 44, a. A. OLG Frankfurt [6. Senat für Familiensachen] NJW 2022, 2763, s. u.). Daher ist entsprechend der von der Beschwerdeführerin zu 2) erteilten Auskunft zu Lasten des Anrechts der Antragsgegnerin bei der Deutschen Rentenversicherung Hessen im Wege der internen Teilung zu Gunsten des Antragstellers neben dem Anrecht in der allgemeinen Rentenversicherung noch ein weiteres Anrecht in Höhe von 0,6032 Entgeltpunkten für langjährige Versicherung in der allgemeinen Rentenversicherung mit einem korrespondierenden Kapitalwert von 3.461.44 € auf dessen Versicherungskonto bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, bezogen auf den … 2004 als Ende der Ehezeit, zu übertragen.

    Der Senat folgt ausdrücklich nicht der Auffassung des 6. Senats für Familiensachen bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, dass es sich bei Anrechten aus §§ 76g, 97a SGB VI (Grundrente) nicht um nach § 2 VersAusglG auszugleichende Anrechte handele (OLG Frankfurt NJW 2022, 2763; vgl. auch Strube NZFam 2022, 717 mwN.). Insbesondere vermag der Senat sich nicht der im Folgenden summarisch wiedergegebenen Begründung des 6. Senats für Familiensachen (vgl. dazu Siede NZFam 2022, 803) anzuschließen, der Zuschlag an Grundrentenentgeltpunkten beruhe in vielen Fällen nicht auf Arbeit, sondern faktisch darauf, dass ein Ehegatte während der Ehezeit nur in Teilzeit beschäftigt war (1), der Zuschlag an Grundrentenentgeltpunkten weise eine Komponente des sozialen Ausgleichs auf, da er nur insoweit gewährt werde, als die Höchstgrenze gem. § 76 g Abs. 6 SGB VI für die Grundrentenbewertungszeit und die Einkommensgrenzen gem. § 97 a SGB VI nicht überschritten werden (2), die Einkommensanrechnung gem. § 97 a SGB VI führe dazu, dass nicht gewährleistet sei, dass kontinuierlich eine gleichbleibende Rente zur Auszahlung komme, weil sich diese von Jahr zu Jahr ändere (3), bei der Berechnung des Zuschlags gem. § 76 g SGB VI würden Zuschläge aus durchgeführtem Versorgungsausgleich und Rentensplitting nicht berücksichtigt (4) und schließlich (5), das Anrecht könne uU nicht ausgleichsreif sein, wenn nicht auszuschließen sei, dass durch nacheheliche Einkommenszeiten die Höchstgrenze gem. § 76 g Abs. 1 SGB VI überschritten werde oder der Ausgleich für den Ausgleichsberechtigten aufgrund der Einkommensanrechnung unwirtschaftlich sei (§ 19 Abs. 2 Nr. 1, 3 VersAusglG).

    Zunächst ist maßgeblicher Gesichtspunkt für die Ausgleichsfähigkeit von Versorgungsanrechten, dass sie durch Arbeitsleistung geschaffen wurden. Dies gilt aber auch für den Zuschlag an Entgeltpunkten für langjährig Versicherte (zum Folgenden vgl. BeckOGK/Kischkel, aaO., Rn. 162 ff.), denn bereits vorhandene rentenrechtliche Zeiten iSd § 51 Abs. 3a S. 1 Nr. 1-3 SGB VI erfahren durch den Zuschlag an Entgeltpunkten lediglich (ggf. pauschal) eine zusätzliche Bewertung (vgl. Bachmann/Borth FamRZ 2020, 1609,1610). Grundlage für den Zuschlag ist also stets die erbrachte Arbeitsleistung.

    Der Zuschlag als solcher hängt auch nicht von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Berechtigten ab. Bei der vom 6. Senat angesprochenen Bedarfsprüfung auf Seiten des Ausgleichsberechtigten handelt es sich deshalb rechtsdogmatisch nicht um eine zusätzliche Anspruchsvoraussetzung, sondern um eine Begrenzung der Höhe des sich aus dem Anrecht selbst ergebenden Renten(-zahlungs-)anspruchs. Die Einkommensanrechnung hat keine Auswirkungen auf die Summe der Zuschlags-Entgeltpunkte; dies selbst dann nicht, wenn ihretwegen im Ergebnis eine Grundrente nicht gezahlt wird. Dieser Grundsatz findet darin seinen Ausdruck, dass die rentensteigernde Funktion der Zuschlags-Entgeltpunkte dann wieder zum Tragen kommt, wenn das anzurechnende Einkommen wegfällt (vgl. Ruland NZS 2021, 241, 244). Im Ergebnis kann die Ausgleichsfähigkeit der Grundrenten-Entgeltpunkte daher nur dann verneint werden, wenn davon ausgegangen wird, dass die nach Einkommensanrechnung verbleibende Versorgung Gegenstand der Teilung ist. Sieht man demgegenüber in dem Zuschlag selbst das in der Ehezeit erworbene Anrecht, entspricht die Einkommensanrechnung strukturell den Vorschriften der Beamtenversorgung über das Ruhen eines Anrechts bzw. der Rentenanrechnung gem. §§ 93, 97 SGB VI mit der Folge, dass der Zuschlag aufgrund der Grundrente gem. § 2 VersAusglG auszugleichen ist (Siede aaO.).

    Soweit Bagatellwerte nach § 18 VersAusglG vom Ausgleich ausgenommen werden sollen, führt dies vorliegend ebenfalls nicht zum Ausschluss des Ausgleichs des Grundrenten-Anrechts der Antragsgegnerin. Den Grenzwert, bis zu deren Erreichen ein Ausgleichswert oder die Differenz beiderseitiger Ausgleichswerte gering ist, normiert § 18 Abs. 3 VersAusglG. Er beträgt für das hier maßgebliche Jahr 2004 2.898 € (120 % der nach § 18 Abs. 1 SGB IV für das Jahr 2004 geltenden Bezugsgröße von 2.415 €), liegt also deutlich unter dem Kapitalwert des auszugleichenden Anrechts von 3.461,44 €.

    Schließlich besteht auch keine Veranlassung, im Hinblick auf eine fehlende Ausgleichsreife des Anrechts im Sinne des § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG von der Durchführung des Ausgleichs abzusehen (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2022, 1351). Denn ungeachtet der Frage, ob § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG tatsächlich zur Anwendung gelangt, wenn die Übertragung von Grundrenten-Entgeltpunkten beim ausgleichsberechtigen Ehegatten nicht zur Auszahlung einer Rente führen wird, ist vorliegend jedenfalls der maßgebliche Grenzwert des § 97a Abs. 4 S. 3 SGB VI von 1.600 € (vgl. OLG Frankfurt aaO.) nicht überschritten. Die Rente des Antragstellers wird sich zum beantragten Rentenbeginn … 2022 ausweislich der Auskunft der DRV Bund vom … 2022 unter Berücksichtigung des vom Amtsgericht angeordneten Versorgungsausgleichs voraussichtlich auf 1.448,94 € brutto belaufen.

    Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1, 84 FamFG. Es entspricht angesichts des in erster Instanz übersehenen Anrechts billigem Ermessen, von der Erhebung von Gerichtskosten für das Rechtsmittelverfahren abzusehen. Für die Anordnung einer Kostenerstattung der Beteiligten untereinander sieht der Senat trotz des weitgehenden Unterliegens des Antragstellers mit seiner Beschwerde ebenfalls keine Veranlassung, weil bei den übrigen Beteiligten im zweiten Rechtszug keine erkennbaren außergerichtlichen Kosten angefallen sind.

    Die Rechtsbeschwerde war angesichts der oben dargelegten divergierenden Rechtsprechung zur Frage der Ausgleichsfähigkeit von Entgeltpunkten für langjährige Versicherung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts zuzulassen (§ 70 Abs. 2 FamFG).

    Rechtsmittelbelehrung: …

    Schmidt Dr. Schweppe Dr. Kischkel