OLG Frankfurt vom 30.08.1999 (3 UF 43/99)

Stichworte: Verbleibensanordnung Kindeswohl Elternrechte Abwägung
Normenkette: BGB 1632 Abs. 4
Orientierungssatz: Gem. § 1632 IV BGB i.d.F. des am 1.7. 1998 in Kraft getretenen KindRG kann das Familiengericht anordnen, daß ein seit längerer Zeit in Familienpflege lebendes Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch eine Wegnahme gefährdet würde. Ausreichend für einen solchen Eingriff in die Elternrechte ist mithin nicht schlechthin, daß der weitere Aufenthalt bei der Pflegeperson dem Wohle des Kindes besser dient.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In der Familiensache

betreffend die Verbleibensanordnung für

hat der 3. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die befristete Beschwerde der Antragsgegnerin vom 27. 11. 1998 gegen den Beschluß des Amtsgerichts - Vormundschaftsgericht - Königstein/Ts. vom 2. 11. 1998 am 30. 8. 1999 beschlossen:

Der Antragsgegnerin wird auf ihre Kosten wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen bewilligt.

Der angefochtene Beschluß wird abgeändert.

Der Antrag auf Erlaß der Verbleibensanordnung wird zurückgewiesen.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei ( § 131 III KostO); außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet ( § 13 a FGG ).

Beschwerdewert: 5.000 DM

G r ü n d e :

I.

F. entstammt wie seine am 23. 8. 1989 geborene Schwester Fr. aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft der am 29. 12. 1964 geborenen Antragsgegnerin mit dem inzwischen verstorbenen XX.. Die Antragsgegnerin heiratete am 29. 1. 1992 ihren jetzigen Ehemann. Ihre beiden Kinder wurden einbenannt. Aus der Ehe ging am 11. 10. 1993 S. hervor.

Aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers ist F. seit der Geburt stark behindert, u.a. Spastiker. Die Antragstellerin, Schwester in der Gemeinschaft der Seligpreisungen, nahm F. nach langem Klinikaufenthalt Ende 1993 in allseitigem Einvernehmen unter ganz außerordentlichem Einsatz in Pflege. Er ist noch auf einen Rollstuhl und eine Magensonde angewiesen, kann inzwischen aber betreut eine Schule für praktisch Bildbare besuchen. Der Kontakt zwischen F. und seiner Mutter war seit 1994 unterschiedlich intensiv.

Mit Hilfe des erst 1997 erstrittenen Schadensersatzes erwarb die Familie inzwischen ein rollstuhlgeeignetes Haus, in das sie im Dezember 1997 einzog. Danach bemühte sich die Mutter, F. auf Dauer zurückzubekommen. Die Antragstellerin hat daraufhin am 23. 3. 1998 die Verbleibensanordnung beantragt.

Nach dem Bericht des Jugendamtes des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 16. 7. 1998 hat die Antragsgegnerin die äußeren Bedingungen für die Übernahme der Betreuung von F. geschaffen und organisiert. Danach könne die Mutter das Kind nach weiterer regelmäßiger Annäherung wieder zu sich nehmen.

Gleichwohl hat das Amtsgericht nach Anhörung der Beteiligten am 2. 11. 1998 angeordnet, daß F. bei der Antragstellerin verbleibt, weil das seelische Wohl des Kindes bei einer Herausnahme aus seiner Bezugswelt gravierend gefährdet wäre und die Mutter und ihre Familie durch die Betreuung des hochsensiblen Kindes überfordert wären. Auf den Beschluß wird im übrigen Bezug genommen.

Gegen die ihr am 13. 11. 1998 zugestellte Entscheidung hat die Mutter am 27. 11. 1998 per Telefax beim Amtsgericht Beschwerde eingelegt, die sie am 21. 12. 1998 begründet hat. Das Amtsgericht hat am 2. 2. 1999 eine Abhilfe abgelehnt und die Akten dem Landgericht übersandt, das sie dem OLG weitergeleitet hat. Hier sind sie am 16. 2. 1999 eingegangen.

Die Antragsgegnerin beantragt, wie erkannt. Die Antragstellerin ist dem Rechtsmittel inhaltlich entgegengetreten. Der Senat hat Stellungnahmen der Jugendämter des Hochtaunuskreises vom 19. 4. 1999 sowie des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 7. 6.1999 eingeholt, auf die verwiesen wird.

Zwischenzeitlich hat sich der Kontakt zwischen F. und seiner Familie auch mit Übernachtungsbesuchen weiter verdichtet.

II.

Das Rechtsmittel gegen die dem Antrag stattgebende Endentscheidung ist nicht gem. § 19 FGG als unbefristete Beschwerde, sondern gem. §§ 64 III FGG, 621e ZPO nur als beim Oberlandesgericht einzulegende befristete Beschwerde statthaft. Wegen der mithin eingetretenen Verfristung ist der Antragsgegnerin indessen von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, weil die - im übrigen binnen der Monatsfrist begründete - Beschwerde der Antragsgegnerin noch vor Fristablauf an das Oberlandesgericht hätte weitergeleitet werden können, die Fristversäumung also auf unrichtiger Sachbehandlung durch das Amtsgericht beruht ( vgl. BVerfG FamRZ 1995, 1559 ). Wie bereits das Amtsgericht hat auch der Senat von der Bestellung eines eigenen Verfahrenspflegers für F. ( § 50 FGG n.F. ) in diesem Verfahrensstadium abgesehen, weil das Interesse des Kindes durch die vier Verfahrensbeteiligten hinreichend reflektiert und vertreten wird ( vgl. hierzu BVerfG FamRZ 1986, 871, 873 ). Anders wird dies allerdings zu beurteilen sein, wenn es etwa um die Modalitäten des Überwechselns Streit geben und ein Herausgabeverfahren erforderlich werden sollte.

Das vorliegende Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg.

Gem. § 1632 IV BGB i.d.F. des am 1.7. 1998 in Kraft getretenen KindRG kann das Familiengericht anordnen, daß ein seit längerer Zeit in Familienpflege lebendes Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch eine Wegnahme gefährdet würde. Ausreichend für einen solchen Eingriff in die Elternrechte ist mithin nicht schlechthin, daß der weitere Aufenthalt bei der Pflegeperson dem Wohle des Kindes besser dient.

Zugunsten der Antragstellerin, die sich als Mitglied einer Laienschwesternschaft seit nunmehr über fünf Jahren aufopferungsvoll nahezu ausschließlich um F. kümmert, kann unterstellt werden, daß das vorliegende Pflegeverhältnis in Abgrenzung zur Heimpflege als Familienpflege zu verstehen ist. Ein derartiges seit längerer Zeit bestehendes Familienpflegeverhältnis soll nicht zum Schaden des Kindes zerstört werden, nicht ohne Not etwa Bindungslosigkeit entstehen. Im Gegensatz zur angefochtenen Entscheidung geht der Senat aber nicht von einer Gefährdung des Kindeswohls aus, wenn F. zu seiner Mutter zurückkehrt.

Auszugehen ist davon, daß die Antragsgegnerin 1993 nach längerer Erkrankung von F., seinem monatelangen Klinikaufenthalt und auch durch die Geburt von S. veranlaßt der Pflege durch die Antragstellerin zugestimmt hat. Das Amtsgericht sieht auch völlig zu Recht, daß F. trotz der bestehenden intensiven Beziehung zur Mutter bei einem Wechsel seiner Bezugswelt gravierend belastet werden wird. Indessen darf ein Kind aus einer wesensgemäß nur auf Zeit angelegten Familienpflege herausgenommen werden, auch wenn psychische Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung nicht schlechthin ausgeschlossen werden können; diese dürfen nur keine dauerhaften Schädigungen zur Folge haben ( vgl. BVerfG FamRZ 1993, 782 ). Für eine in diesem Sinne nachhaltige Gefahr für das Wohl von F. ist aber nichts ersichtlich. Wenn er in seine Familie auf Dauer eingebunden werden wird, wird er sich zur Überzeugung des Senats insbesondere wegen der Verbindung auch mit Geschwistern alsbald trotz Schulwechsels einleben können. Die Zuwendung, die F. Zuhause durch seine Familienangehörigen und insbesondere seine Mutter erfahren wird, vermag die mit der Trennung des Kindes von der Antragstellerin verbundenen psychischen Beeinträchtigungen durchaus zu mildern.

Eine Gefährdung des Kindeswohls ist auch durch die Veränderung in der Betreuungssituation im übrigen nicht gegeben, nachdem die Mutter - entsprechend den Berichten des Jugendamtes Darmstadt vom 16. 7. 1998 und 7. 6. 1999 - u.a. infolge des Erwerbes des Hauses mit den Mitteln F.s und der Unterstützung durch den Club für Behinderte und ihre Freunde ( Bereitstellung eines Ersatzdienstleistenden für Nachtwachen ) die äußeren Bedingungen für die Wiederaufnahme der Versorgung von F. geschaffen hat. Zweifellos ist die aufopferungsvolle Rundum-Betreuung durch die Antragstellerin das Beste, was F. seit seiner akuten Erkrankung 1993 erfahren konnte. Diese optimale Ausgestaltung der Familienpflege mit entsprechend enger emotionaler Bindung zwischen F. und der Antragstellerin ist auch bei gutem Willen unter Inanspruchnahme von Hilfskräften nicht zu übertreffen. Wenngleich die Organisation der Betreuung von F. bei der Mutter durch die Einbindung neuer Pflegehilfen eine weitere psychische Belastung für F. darstellen mag, ist indessen die Feststellung nicht gerechtfertigt, daß diese das Kindeswohl gefährdet. Vielmehr sind die körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen von F. als Folge der Trennung von den bisherigen Bezugspersonen im Hause St.xxx. und der bisherigen Schule mit Rücksicht auf die Eingliederung in einen Familienverband noch hinnehmbar. Dafür gibt der unbestrittene Bericht der Mutter über die guten Erfahrungen anläßlich der Aufenthalte von F. bei seiner Familie mit Übernachtung hinreichend Anlaß.

Der Senat verkennt nicht, daß nach Darstellung der Antragstellerin derzeit eine Hüftoperation von F. mit stationären Krankenhausaufenthalt und mehrwöchigem Vollgips ins Haus stehen soll. Insofern kommt den Ausführungen des Amtsgerichts zur Belastung der Antragsgegnerin mit Pflichten gegenüber den weiteren Familienmitgliedern durchaus Bedeutung zu. Es wäre zu begrüßen, wenn die Antragstellerin diese Zeit mit F. noch durchstehen und das Kind erst danach in seine Familie überführen könnte. Eine Verbleibensanordnung, mit der die Weichen auf Dauer gestellt werden, kommt aber gleichwohl nicht in Betracht, zumal Zeitpunkt und Erforderlichkeit der Maßnahme offen sind. Sollte zwischen den Beteiligten wegen des Übergangszeitpunktes kein Einvernehmen erzielt werden, ist die Antragsgegnerin ohnehin auf das Herausgabeverfahren nach § 1632 I BGB verwiesen, das wiederum Raum für die Prüfung läßt, ob das Kindeswohl zum vorgesehenen Zeitpunkt der Herausgabe entgegensteht.

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