OLG Frankfurt vom 14.11.2002 (3 UF 134/02)

Stichworte: Verwirkung, Elternunterhalt Elternunterhalt, Verwirkung
Normenkette: BGB 1601, 1611 BGB 1611, 1601
Orientierungssatz: 1) Der Elternunterhalt wird verwirkt, wenn eine Mutter ihr später auf Unterhalt in Anspruch genommenes Kind bei den Großeltern zurückgelassen und sich weiter nicht wesentlich um das Kind gekümmert hat. 2) Zulassung der Revision, bestätigt durch BGH, Urteil vom 19.05.2004 - XII ZR 304/02

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

U R T E I L

In der Familiensache

hat der 3. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch die Richterin am Oberlandesgericht Diehl als Einzeirichterin gemäß § 527 Abs. 4 ZPO aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.10.2002 für Recht erkannt:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Hanau vom 23.04.2002 wird zurückgewiesen. Die Kosten hat die Klägerin zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 600,00 EUR abwenden, falls nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.

Gebührenstreitwert zweiter Instanz: 3.230,00 EUR.

Gründe:

I.

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Diese sind zu ergänzen dahingehend, dass der amerikanische Ehemann der Mutter der Beklagten, P. X., zwischenzeitlich verstorben ist. Die in Deutschland lebenden Kinder der Hilfeempfängerin, R. L. und F. W., sind nicht leistungsfähig zur Zahlung von Elternunterhalt. Die beiden weiteren Kinder H. V. und J. Z. leben in den USA.

Die Klägerin vertritt die Auffassung, das Amtsgericht habe die Klage zu unrecht abgewiesen, da der Hilfeempfängerin kein Fehlverhalten, das i. 5. des § 1611 Abs. 1 BGB relevant wäre, entgegenzuhalten sei.

Sie beantragt,

das Endurteil des Amtsgerichts Hanau zu Az.: 66 F 1116/01 UK, verkündet am 23.04.2002, zugestellt am 30.04.2002, wird aufgehoben.

2.Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin DM 6.512,01 (EUR 3.329,54) nebst4 % Zinsen aus DM2.176,11 (EUR 1.112,63) seit 24.07.1999 zu bezahlen und 4 % Zinsen aus DM 4.335,90 (EUR 2.216,91) seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden, hat in der Sache selbst jedoch keinen Erfolg.

Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass den geltend gemachten Ansprüchen auf Elternunterhalt § 1611 Abs. 1 BGB entgegensteht.

Zwar kann der Mutter der Beklagten, deren Unterhaltsanspruch auf die Klägerin gemäß § 91 BSHG übergegangen ist, nicht vorgehalten werden, sie sei durch ein sittliches Verschulden bedürftig geworden. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass ihre Mutter sich anlässlich ihrer Übersiedelung in die USA ihre in Deutschland erworbenen Rentenanwartschaften hat auszahlen lassen, erfüllt diese Handlung nicht die in § 1611 Abs. 1 5. 1 BGB erste Alternative genannte Voraussetzung. Zum einen ging die Mutter der Beklagten bei ihrer Handlung erkennbar davon aus, dass sie dauerhaft in den USA bei ihrem zweiten Ehemann leben würde. Zum anderen entsprach es in den 6üiger Jahren durchaus der Üblichkeit, dass sich Frauen bei der Eheschließung ihre bis dahin erworbenen Rentenanwartschaften auszahlen ließen, um damit Anschaffungen für den gemeinsamen Haushalt zu tätigen. Dies ist der Einzelrichterin aus zahlreichen Versorgungsausgleichsvertahren bekannt. Unter diesen Umständen kann weder von einem Verschulden an der Bedürftigkeit, noch gar von einem sittlichen Verschulden, wie dies § 1611 Abs. 1 5. 1 BGB 1. Altern. erfordert, gesprochen werden.

Auch soweit die Beklagte darauf abgestellt hat, ihre Mutter habe ihre Barunterhaltspflicht im Sinne des § 1611 Abs. 1 S.1 BGB 2. Alternative gröblich vernachlässigt, kann dem, wie bereits vom Amtsgericht angedeutet wurde, nicht gefolgt werden. Aufgrund der Tatsache, dass die Mutter der Beklagten noch vier weitere Kinder geboren hat und diese betreuen musste und nach der Aussage der Mutter der Beklagten vor dem Amtsgericht Z-Stadt vom 24.02.2002 ist davon auszugehen, dass die Mutter der Beklagten nicht leistungsfähig zur Zahlung von Unterhalt gewesen istZur Recht hat daher das Amtsgericht den Wegfall der Unterhaltsverpflichtung der Beklagten ihrer Mutter gegenüber auf die 3. Alternative des § 1611 Abs. 1 5. 1 BGB gestützt.

Die Mutter der Beklagten hat sich auch nach Auffassung des Berufungsgerichts einer schweren Verfehlung gegenüber der Belagten schuldig gemacht. Eine schwere Verfehlung i. 5. des § 1611 Abs.1 S. 1 BGB 3. Alternative stellt ein Verhalten dar, dass ei ne tiefgreifende Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher oder persönlicher Belange des Verpflichteten bewirkt hat. Es muss einen besonders groben Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme verraten (Landgericht Hannover, FamRZ 1991, 1094 f. m. N.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Wie die Muter der Beklagten in ihrer Vernehmung selbst einräumt, bestand über viele Jahre kein Kontakt zwischen ihr und der Beklagten. Ursprünglich lebte die Mutter der Beklagten nach der Geburt der Beklagten mit dieser noch bei ihren Eltern. Dort ließ sie die Beklagte zurück und zog zu ihrem Ehemann in die Nähe von X-Stadt und später mit diesem nach Y-Stadt. Nach Angaben der Mutter der Beklagten hat diese zwar während des Aufenthalts in Y-Stadt die Beklagte für ein paar Monate in ihren dortigen Haushalt geholt, was letztlich dazu führte, dass die Großmutter der Beklagten diese aus dem mütterlichen Haushalt herausnehmen musste, weil der Aufenthalt dort der Entwicklung der Beklagten abträglich war. Dieses räumt die Mutter der Beklagten in ihrer Vernehmung selbst ein. Sie hat bekundet, dass die Beklagte gestottert habe und dass sie selbst eingesehen habe, dass es besser sei, wenn die Beklagte wieder bei ihrer Großmutter leben würde.

Im Zuge der Ehescheidung wurde schließlich auch die elterlichen Sorge den Eltern der Beklagten entzogen. Beide wurden als nicht erziehungsgeeignet angesehen. Die elterliche Sorge für die Beklagte wurde den Großeltern übertragen.

Seit die Beklagte ca. 3 Jahre alt gewesen ist, hat sich ihre Mutter, nach deren eigenen Angaben in ihrer Zeugenvernehmung, nicht mehr persönlich um die Beklagte gekümmert, mit Ausnahme eines Aufenthaltes der Beklagten in den USA, zu dem die Mutter jedoch keine näheren Angaben gemacht hat. Sie hat hierzu lediglich ausgeführt, dass sie selbst damals sehr krank gewesen ist, weil sie an Krebs erkrankt war. Dies spricht dafür, dass es der Mutter der Beklagten bei dem Aufenthalt der Beklagten in den USA weniger um die Anteilnahme am Leben ihrer Tochter gegangen ist, als vielmehr darum, dass die Beklagte ihr, der Mutter, in schweren Zeiten Trost spendet.

Wie sich aus der Vernehmung der Mutter der Beklagten weiterhin ergibt, hat diese in dem gesamten Zeitraum von Anfang der 6üiger Jahre bis heute von sich aus den Kontakt zur Beklagten nicht nachdrücklich gesucht. Sofern es, abgesehen vom USA-Aufenthalt der Beklagten, zu Kontakten zwischen Mutter und Tochter gekommen ist, beruhte dies auf den Bemühungen der Großeltern. Wie die Mutter der Beklagten im Rahmen ihrer Vernehmung angegeben hat, ergeben sich auch heute noch Kontakte eher zufällig, nämlich dann, wenn die Beklagte ihre Schwester R. in Z-Stadt besucht.

Die Mutter der Beklagten hat sich damit über einen langen Zeitraum nicht um die Belange der Beklagten gekümmert. Dies wiegt besonders schwer unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Mutter der Beklagten 1966 in die USA ausgewandert ist und ihre zu diesem Zeitpunkt bereits geborenen weiteren Kinder mitgenommen hat, während sie die Beklagte in Deutschland zurückließ. Die Beklagte, die zum damaligen Zeitpunkt 10 Jahre alt war und an der Schwelle zur Pubertät stand, musste dies als Zurücksetzung und als lnteressenlosigkeit ihrer Mutter an ihr werten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die von der Mutter der Beklagten mit in die USA zu ihrem dortigen Ehemann P. X. genommenen Kinder unstreitig nicht alle von diesem abstammten, so dass die Abstammung kein Grund für die unterschiedliche Behandlung der Beklagten und ihren Halbgeschwistern war.

Auch die von der Mutter der Beklagten im Rahmen ihrer Vernehmung angegebene Grund, nämlich ihre Eltern hätten ihr die Beklagte bei einer Übersiedelung in die USA ohnehin nicht gegeben, vermag hieran nichts zu ändern. Die Mutter der Beklagten hat keinerlei Versuch unternommen, um ihre Eltern umzustimmen und der Beklagten eine Aufnahme in ihren Familienverband anzubieten.

Auch soweit die Klägerin darauf verweist, die Mutter der Beklagten hätte sich ja insoweit um die Beklagte gekümmert, als sie diese bei ihren eigenen Eltern in besten Händen gewusst und entsprechend wohlversorgt zurückgelassen hätte, vermag dies an einer schweren Verfehlung nichts zu ändern. Dabei mag es durchaus zutreffend sein, dass es sich letzten Endes als positiv für die Beklagte erwiesen hat, dass sie von ihren Großeltern erzogen wurde. Dies entlastet jedoch die Mutter der Beklagten nicht. Diese hat sich vielmehr mit Ausnahme einer relativ kurzen Zeit nach der Geburt durchweg nicht um die Beklagte gekümmert, obwohl ihr dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Selbst wenn sie nicht in der Lage gewesen sein sollte, die Beklagte in ihren Haushalt aufzunehmen, so hätte es ihr doch oblegen, zumindest brieflich und telefonisch den Kontakt mit ihrer ältesten Tochter zu halten und deren Entwicklung helfend und stützend zu begleiten. Besonders schwerwiegend kommt hinzu, dass die Mutter der Beklagten dieser während der wichtigen Entwicklungsphase der Pubertät nicht zur Seite stand. Gerade in dieser Zeitspanne ist es für die Entwicklung von Jugendlichen wichtig und erforderlich, dass der gleichgeschlechtliche Elternteil, der ihnen im Alter näher ist als der gleichgeschlechtliche Großelternteil, als Bezugsperson und gegebenenfalls auch als Reibungsfläche zur Verfügung steht. Dies war für die Beklagte nicht der Fall. Vielmehr musste die Beklagte erleben, dass ihre Mutter unter Mitnahme ihrer Halbgeschwister dauerhaft in die USA verzogen und quasi aus ihrem Leben verschwunden ist. Hierin offenbart sich jedoch ein grober Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme, der ausreicht, um die dritte Alternative des § 1611 Abs.1 5. 1 BGB zu erfüllen.

Insgesamt schließt sich damit das Berufungsgericht den Entscheidung des Landgerichts Hannover, Urteil vom 17.01.1991 (a. a.O.), Amtsgericht Leipzig, Urteil von 18.09.1986 (FamRZ 1997, 965), sowie Amtsgericht Helmstedt, Urteil vom 04.09.2000, (FamRZ 2001, 1395) an, wonach eine lange andauernde Kontaktlosigkeit zu einer Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt gemäß § 1611 BGB führt.

Im vorliegenden Fall entfällt auch die Unterhaltsverpflichtung der Beklagten vollständig. Zwar ist der Klägerin darin zuzustimmen, dass ein vollständiger Ausschluss des Unterhaltsanspruches nur unter den engen Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 5. 2 BGB in Betracht kommt und damit nur dann vorliegt, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre. Diese Voraussetzung bejaht das Berufungsgericht jedoch in Überstimmung mit dem Amtsgericht. Auch unter Berücksichtigung der Grundsätze, die Privatdozent und Rechtsanwalt Dr. Peter Finger in seinem Aufsatz "Beschränkung und Ausschluss der Unterhaltspflicht nach § 16111 BGB" (FamRZ 1995, 969 bis 975) aufgestellt hat, ergibt sich im vorliegenden Fall, dass die Inanspruchnahme der Beklagten grob unbillig wäre. Zu Recht stellt Dr. Finger darauf ab, dass im Rahmen der Billigkeitsentscheidung die komplette Lebensleistung des Elternteils, dessen Unterhaltsanspruch gegen das erwachsene Kind in Rede stellt, zu berücksichtigen ist. Vorliegend kann eine solche Lebensleistung der Mutter der Beklagten im Verhältnis zur Beklagten nicht gesehen werden. Die Mutter der Beklagten hat die Beklagte allenfalls in dem relativ kurzen Zeitraum, in dem sie nach der Geburt der Beklagten mit dieser bei ihren Eltern gelebt hat, vollumfänglich betreut und versorgt. Schon bei dem zweiten Aufenthalt der Beklagten bei ihrer Mutter in Y-Stadt ist die Mutter weiterhin berufstätig geblieben und hat die Betreuung und Versorgung nach ihren eigenen Angaben Verwandten überlassen.

Auch der Besuch der Beklagten in den USA stellt keine entsprechende Leistung an Erziehung und Betreuung für die Beklagte dar, da dieser wohl letztlich vor dem Hintergrund der schweren Erkrankung der Mutter der Beklagten erfolgt ist. Da somit davon auszugehen ist, dass die Mutter der Beklagten zwar Betreuungsund Versorgungsleistungen für ihre anderen Kinder erbracht und diesen auch emotionale Zuwendung gegeben hat, dies jedoch gerade für die Beklagte so gut wie nie der Fall gewesen ist, erscheint die Inanspruchnahme der Beklagten als grob unbillig im Sinne des § 1611 Abs. 1 5. 2 BGB.

Ein Unterhaltsanspruch der Mutter der Beklagten gegen die Beklagte ist damit nicht gegeben, so dass der gesetzliche Forderungsübergang nach § 91 BSHG mangels übergangsfähiger Unterhaltsansprüche ins Leere gegangen ist. Ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte besteht somit nicht.

Unabhängig von der vorstehenden Frage ist darüber hinaus zweifelhaft, ob unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23.10.2002, XII ZR 266/99, eine Inanspruchnahme der Beklagten aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten in Betracht kommt. Bei ihren Berechnungen der Leistungsfähigkeit der Beklagten ist die Klägerin als Untergrenze von dem in den Unterhaltsleitlinien in Bezug auf den Elternunterhalt aufgeführten Selbstbehaltsatz ausgegangen und hat diesen Selbstbehaltsatz von 2.250,00 DM um Mietmehrkosten erhöht. Nicht berücksichtigt hat die Klägerin jedoch, dass durch die Inanspruchnahme in dem von ihr geltend gemachten Umfang eine spürbare und dauerhafte Senkung des Lebenszuschnittes der Beklagten in Betracht kommt und dass dies nicht deren individuellen Berufs- und Einkommensverhältnissen entspricht. Daher dürfte auch unter diesem Gesichtspunkt eine Inanspruchnahme der Beklagten scheitern. Dies kann letztlich jedoch dahinstehen, da ein Unterhaltsanspruch aus dem Gesichtspunkt des § 1611 Abs. 1 BGB ohnehin nicht gegeben ist.

Die Revision ist zuzulassen, da die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Elternunterhalt als gänzlich verwirkt i. S. des § 1611 Abs. 1 BGB angesehen werden kann, ersichtlich vom Bundesgerichtshof noch nicht geklärt wurde und damit die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO erfüllt sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Diehl