Missbrauch - ein interdisziplinäres Problem -
Grundsätze und Arbeitsweisen verschiedener Professionen

1. Einleitung

 

Fälle, in denen es um den Verdacht auf sexuellen Missbrauch geht, haben die Gerichte schon immer beschäftigt. Während sich die Fallzahlen bei den Strafgerichten nur unwesentlich verändert haben, sind sie bei den Familiengerichten seit etwa 1990 stark gestiegen (Ollmann). In vielen Fällen hat vor der Einschaltung der Familiengerichte bereits eine zeitaufwendige Aufdeckungsarbeit durch Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen oder andere Einrichtungen stattgefunden, die umfangreich dokumentiert ist.

 

 

Als erstes sollte der Richter den ihm unterbreiteten Sachverhalt - in aller Regel wird ihm dieser  von wenig ausgebildeten Personen, die kaum die Erfahrung oder Sachkunde bzw. Kompetenz zur Beurteilung der vorliegenden Sachverhalte besitzen wie z.B. sozial-pädagogisches Personal mitgeteilt einer Plausibilitätskontrolle unterziehen und eine Offenheit im Denken behalten, die auch Alternativhypothesen zulässt. Es sollte in jedem Fall die für das Kind am wenigsten schädliche Alternative gewählt werden, d.h. es muss abgewogen werden, ob eine sofortige Herausnahme für das Kind weniger belastend ist als ein Verbleib in der möglicherweise schädigenden Elternbeziehung. Während die Trennung eines kleinen Kindes von seiner Familie stets ein traumatisches Erlebnis darstellt, kann von psychischen Traumata nach jedweder Form von sexuellem Missbrauch nicht ausgegangen werden.

 

Hinzu kommt, dass die Trennung geeignet ist, Tatsachen zu schaffen, die später nur schwer rückgängig zu machen sind. Herausnahmeentscheidungen haben sich in der Vergangenheit zuweilen erst nach längerer Zeit als Fehlentscheidungen herausgestellt. Wenn die betroffenen Kinder bei Pflegeeltern untergebracht sind, wächst aber mit der Dauer der Unterbringung die Gefahr, dass die leiblichen Eltern an ihrer umgehenden Rückholung durch eine gerichtliche Verbleibensanordnung (§ 1632 Abs. 4 BGB) gehindert werden.

 

 

Die meisten Helferinnen und Helfer befinden sich bei der Aufdeckung eines Falles von sexuellem Missbrauch sehr rasch in einer Art Beweisnot. Sehr häufig löst der alleinige Verdacht, ein Mädchen oder ein Junge könnte sexuell missbraucht worden sein, bei der Person, die das Kind in sein Vertrauen gezogen hat, eine kleine Gerichtsverhandlung im Kopf aus. Man fragt sich, ob man dem Kind überhaupt glauben könne und vor allem macht man sich Sorgen darüber, was es bedeuten könnte, wenn man dem Kind Glauben schenkt. Zerstört man da nicht eine Familie? Hätte die Aufdeckung des Missbrauchs nicht größere Konsequenzen und negativere Folgen, als wenn man einfach weg schauen würde?

 

 

 

2. Sexueller Missbrauch

 

2.1.  Begriff und Ausmaß

 

Über den Begriff besteht kaum Streit. Balloff definiert sexuellen Kindesmissbrauchs als die erotische oder sexuelle Inanspruchnahme von abhängigen, entwicklungsmäßig unreifen Kindern für sexuelle Handlungen, wobei das Kind die Tragweite dieser Inanspruchnahme durch einen Dritten nicht begreifen und daher nicht freiwillig in die sexuelle Handlungen einwilligen kann.

 

 

Im Fall familiengerichtlicher Fragestellung trifft die folgende Definition jedoch besser zu: (Wolff)

 

Die sexuelle Misshandlung ist eine unter Ausnutzung einer Macht- oder Autoritätsposition (erzwungene) sexuelle Aktivität eines Erwachsenen mit einem Minderjährigen in der Form der Belästigung, der Masturbation, des oralen, analen oder genitalen Verkehrs oder der Nötigung oder Vergewaltigung, (also des angedrohten oder tatsächlichen gewaltsamen Verkehrs), die zu einer körperlichen oder seelischen Schädigung bzw. zu einer Entwicklungsstörung führt und die das Wohl und die Rechte  eines Minderjährigen beeinträchtigen.

 

 

Aus der professionellen Perspektive sozialer Hilfesysteme, denen es ja nicht um die Verfolgung von Straftaten, sondern um Hilfen zur Bewältigung sozialer Probleme geht, sind bei sexuellen Misshandlungen immer drei Aspekte zu berücksichtigen:

 

1.      Eine dem Alter, der Entwicklung und der Rolle des Kindes in der Familie nicht entsprechende sexuelle Aktivität;

2.      Das Vorliegen ganz bestimmter manifester körperlicher, psychischer bzw. psychosomatischer Störungen oder Verhaltensprobleme bzw. einer das Kind schädigenden Beziehungskonstellation;

3.      Der Nachweis, dass das Wohl und die Rechte eines Minderjährigen gefährdet bzw. beeinträchtigt sind.

 

Eine solche Definition ist geeignet, auch methodisch handlungsleitend zu sein, da sie sich an psychologischen und sozial-pädagogischen Kriterien zur Beurteilung der jeweiligen Schädigung oder Gefährdung eines Kindes orientiert. Definitionen sind immer auch Handlungsparameter, strukturieren das Hilfeangebot oder auch den Eingriff.

 

 

Die Angaben zur Häufigkeit in den Veröffentlichungen schwanken bei Frauen zwischen 36% und 7% bzw. zwischen 62% und 6% und bei Männern zwischen 3% und 29% (Wolff)

 

Peter Wetzels (1994) hat auf dem Berliner Forum Sexueller Missbrauch Evaluation der Praxis und Forschung erste Daten der bisher verlässlichsten Befragung in Deutschland  mitgeteilt: Über sexuelle Missbrauchserfahrungen mit Körperkontakt im Alter bis zu 14 Jahren berichteten 5% bis 8% der Frauen in den alten Bundesländern (Männer 1,4% bis 3,5%), in den neuen sind es 2% bis 6% (Männer 0,5% bis 2,5%). 

 

Auf der Grundlage repräsentativer und kriminalistischer Erhebungen in den USA und (West)Deutschland geht man davon aus, dass jedes 4. bis 15. Kind  oder zwischen 11% und 62% der erwachsenen Frauen und zwischen 3% und 16 % der erwachsenen Männer sexuell ausgebeutet werden, dass der sexuelle Missbrauch überwiegend in der Familie und im familären Umfeld stattfindet und oft jahrelang andauert. Eine im Auftrag des Bundeskriminalamtes durchgeführte repräsentative Untersuchung (Baurmann) kommt zu dem Ergebnis, dass in der alten Bundesrepublik und Westberlin etwa 4% bis 5% aller Frauen als Kind missbraucht wurden.

 

Insgesamt lassen sich also ganz unterschiedliche quantitative Dimensionen sexueller Kindesmisshandlungen erkennen, wobei die Daten generell allerdings in der Regel weit unter den Daten retrospektiver Meinungsbefragungsstudien liegen. Der hierzulande oft gemachte Versuch, die Zahlen mit Dunkelfeldschätzungen auf der Basis der Hochrechungen sehr verschiedener kriminologischer Daten der Sexualdelinquenz zu vergrößern, führt nicht weiter. Baurmann meint: .. dass viele Angaben einfach überhöht oder falsch sind..

 

Nach heutigem Wissen werden Mädchen sehr viel häufiger als Jungen sexuell ausgebeutet und in der Mehrzahl der Fälle sind die Täter Männer. Betroffen sind der Häufigkeit nach Schulkinder (6-11 J.), Kleinkinder (0-5 J.) und Jugendliche in der Pubertät (12-15). Das heißt, ein bestimmter Prozentsatz der Kinder in unserer Kultur erlebt in entscheidenden Phasen der Persönlichkeitsentwicklung ein schwerwiegendes Trauma. (Frauke Teegen).

 

 

2.2. Ursachen und Folgen des sex. Missbrauchs:

 

Sexuelle Kindesmisshandlungen geschehen vor allem im sozialen Nahraum. Die Misshandler sind zum größten Teil - darin stimmen empirische Untersuchungen weitgehend überein - Familienmitglieder, nähere Verwandte und Bekannte (zu 50% u. mehr). Familiäre sexuelle Misshandlungen sind nicht allein wegen ihrer Häufigkeit, sondern auch wegen ihres in der Regel größeren Schädigungsrisikos von Belang, ist eine Abgrenzung von sexuellen Missbrauchsfällen durch einen fremden Misshandler doch eher möglich als von sexuellen Misshandlungen in Familien, die ja durch die Irritation von Wahrnehmung und Bewertung von Bedeutungen, Beziehungen und Gefühlen gekennzeichnet sind.

 

Es wird immer wieder davon gesprochen, dass sexuelle Misshandlungen in allen Schichten vorkämen. Eine solche Aussage ist soziologisch allerdings mehr als trivial. Man möchte ja gerade wissen, ob besondere soziale Lebensverhältnisse Ausmaß und Schweregrad sexueller Misshandlungen bedingen. Epidemiologische Untersuchungen zeigen nun, dass Unterschichtverhältnisse und Verhältnisse sozialer Isolation das sexuelle Misshandlungsrisiko erhöhen (Wolff).

 

Außerdem spielen bei sexuellen Misshandlungen bestimmte Familienkonstellationen eine Rolle: Sexuelle Misshandlungen sind, wie empirische Untersuchungen zeigen, in stark moralischen und rigiden Familien offenbar häufiger. Sie geschehen auch häufiger in Scheidungs- bzw. neu zusammen gesetzten (Wiederverheiratungs-) Familien. Das erklärt auch, dass Stiefväter als Misshandler überrepräsentiert sind (Wolff).

 

Im einzelnen lassen sich folgende Ursachen herausstellen:

 

1.      Sexuelle Misshandlungen stellen in phänomenologischer Charakterisierung sowohl eine grenzüberschreitende bzw. erzwungene Sexualbeziehung als auch eine nichtaltersgemäße Form der Sexualität dar, die dem Kind unter Ausnutzung seiner Abhängigkeit von einem Erwachsenen aufgezwungen oder verführerisch nahegelegt wird. Es handelt sich meist um eine verfrühte, mit forcierter Progression verlaufene Verführung, meist in der Vorpubertät und Pubertät.

 

2.      Sexuelle Misshandlungen entwickeln sich in einem von Macht- und Autoritätsunterschieden geprägten Generationen- und Geschlechterverhältnis, in dem die für den Entwicklungsprozess der Kinder jeweils notwendige Weiterentwicklung der Familie vom intensiven und liebevollen Körperkontakt im Umgang mit dem Säugling und Kind nicht gelungen ist.

 

 

3.      Sexuelle Misshandlung zwischen Erwachsenen und einem Minderjährigen ist in familienstruktureller Charakterisierung  eine Reaktion auf ein Scheitern von Intimität an den Machtverhältnissen im familialen Kontext, insbesondere auf das Scheitern in den sexuellen Beziehungen des erwachsenen Paares. Sexuelle Misshandlung ist eine Reaktion auf die Abwesenheit bzw. die Nichtverfügbarkeit eines erwachsenen Partners.

 

 

In sexuellen Misshandlungsfamilien entspricht die Interaktionsstruktur, also die spezifische Rollenkonstellation, nicht der Tiefenstruktur der Bedürfnisse nach Unterstützung, Pflege und Annahme und Wärme in den Beziehungen. Typisch ist in solchen Familien,

 

-         dass die Versorgung von Kindern oft minimal und tendenziell vernachlässigt ist;

-         dass die Pflege des Kindes oft sexualisiert ist;

-         dass das Erziehungskonzept und die Sozialisationspraktiken nicht selten deviant bzw. paradox sind, ganz abgesehen davon, dass auch von perversen Beziehungspraktiken berichtet wird.

 

Ohne die Einbeziehung der familialen Bindungs- und Beziehungskonstellationen können auch die Folgen sexueller Kindesmisshandlungen nicht eingeschätzt werden, zumal die vielfach als Folgen sexueller Misshandlungen berichteten Symptome in der Regel unspezifisch sind, d.h. auch bei Personen beobachtet werden, die nicht sexuell missbraucht wurden. Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass Diagnoseversuche sexueller Misshandlungen, die nur auf Symptombeurteilungen fußen, wissenschaftlich völlig unhaltbar sind.

 

Als einigermaßen gesichert  kann gelten: Gewaltsame sexuelle Misshandlungen von langer Dauer (die deutliche Minderheit aller Fälle) korrellieren langfristig (vor allem bei männlichen Opfern, aber auch bei weiblichen) mit sexuellen Störungen, depressiven Symptomen, Angst, suizidalen Tendenzen und selbstdestruktivem Verhalten. Jedenfalls zeigen Forschungsübersichten, dass die individuelle Verarbeitung des Missbrauchs außerordentlich stark variiert. Jeder Fall hat seine besondere Ausprägung. Sie hängt aber entscheidend vom jeweiligen familialen Kontext, nicht zuletzt von den Kräften und Stärken des misshandelten Kindes ab.

 

Dennoch muss festgestellt werden, dass es kein sexual abuse syndrome gibt.

 

Betrachtet man einzelne Fälle und Kinderschicksale so ist man häufig zu schnell bereit, wenigstens im Einzelfall eine lineare Kausalität zwischen dem Trauma sexueller Missbrauch und bestimmten Folgen zu sehen. Bei den meisten sexuell missbrauchten Kindern finden sich bei gründlicher Anamneseerhebung neben dem Trauma des sexuellen Missbrauchs fast immer eine Fülle von weiteren Belastungsfaktoren. Es erscheint deshalb wichtig, von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder nicht durch dieses label zu stigmatisieren oder diese Kinder zu einer quasi homogenen Gruppe reduzieren zu wollen. Im einen Fall mag eine deutliche Entwicklungsverzögerung, im anderen Vernachlässigung, problematische Familienverhältnisse etc. zum jeweiligen Ist-Zustand der Persönlichkeitsentwicklung und der Problematik des Kindes beitragen. Es ist deshalb wichtig, auch im Einzelfall die Einschätzung von Folgen und die Bewertung von Psychopathologie nicht allein auf das Trauma sexuellen Missbrauchs zu reduzieren, sondern eine möglichst umfassende Abklärung vorzunehmen.

 

Wenn ein Kind zum Sexualobjekt eines Erwachsenen wird, kommt es in der Regel zu einer emotionalen Verwirrung, auch wenn jedes Kind nach den je konkreten Umständen darauf unterschiedlich reagiert. Ein kleiner Teil der so misshandelten Kinder wird auch körperlich verletzt, bei den schweren Fällen gehen sexuelle und körperliche Misshandlungen mit Vernachlässigungen einher, und es kommt zu kumulativen Beeinträchtigungen. Das langfristige Trauma ist abhängig von dem gesamten familialen Beziehungsklima, von der Schwere der Familienstörung und von den kompensatorischen Erfahrungen.

 

Fest zu halten bleibt, dass in Bezug auf Kindesmisshandlungen und sexuellen Missbrauch keine spezifische Tätertypologie bekannt ist. Ebenso fehlen eindeutige und sichere Hinweise, ob zum Beispiel in bestimmten Familienkonstellationen Kinder häufiger sexuell missbraucht oder sonst misshandelt werden. Je gewalttätiger z.B. Männer mit Frauen oder Männer und Frauen miteinander umgehen, desto gewaltförmiger ist in der Regel auch ihre Elternrolle den Kindern gegenüber.

 

Fachlich verlässliche Diagnosen sexueller Kindesmisshandlungen enthalten Angaben zu mindestens drei Bereichen:

 

1.      Die Äußerungen des Kindes (Spontaneität/Detailgenauigkeit und Konsistenz/das Niveau der sexuellen Kenntnisse des Kindes) in Verbindung mit Darstellungen der vorliegenden Symptomatik bzw. einem genauen Bericht über die Wahrnehmungen oder Vermutungen Dritter.

 

2.      Eine umfassende Anamnese der Familiengeschichte und Jetzt-Situation.

 

 

3.      Eine Einschätzung der Problem- und Hilfeakzeptanz der Betroffenen.

 

 

Dem Gutachter stellt sich ein weiteres Problem, dass die in manchen familiengerichtlichen Verfahren, z.B. gerade in Scheidungsstreitigkeiten, zu klärenden Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch, nicht mit weitreichenden oder gravierenden psychischen Folgen von Diagnosecharakter oder erheblichem Schweregrad einher gehen müssen. Vielmehr zeigen diese Kinder teilweise vorübergehende Probleme im Sinne von Anpassungsstörungen, die jedoch im Vergleich zur sonst von uns untersuchten Population eher wenig auffällig sind. Fegert meint, mit der Annahme eines Missbrauchssyndroms laufe man Gefahr, sich wichtige diagnostische Informationen und Entscheidungskriterien für Interventionsstrategien und therapeutisches Handeln entgehen zu lassen.

 

Festzuhalten ist also nochmals, dass offensichtlich keine Theorie mit hinreichender Sicherheit und Plausibilität die Ursachen von sexuellem Missbrauch und Misshandlungen anderer Art aufzeigen können. Offenbar kommen beim Entstehen der Kindesmisshandlungen und des sexuellen Missbrauchs vielfältige Ursachenketten in Frage, die alle in einem komplexen interaktionalen, also wechselseitigen Zusammenhang zwischen Umwelt, Eltern und Kinder stehen.

 

Versucht man die seelischen Symptome und Schäden festzustellen, die dem sexuell missbrauchten Kind kurz-, mittel- und langfristig erwachsen, wird eine sichere Differentialdiagnose oder Prognose nicht möglich sein. Beim Erfassen des seelischen Schadens spielen das Alter des Opfers, die Art, Dauer und Intensität der Gewalt, das Alter des Täters und der Grad der Verwandtschaft eine Rolle. Zu Recht wird vermutet, dass ein sexueller Missbrauch innerhalb der Familie für das Kind traumatisierender ist als ein sexueller Missbrauch durch einen Fremden und dass der sexuelle Missbrauch durch den leiblichen Vater schwerwiegendere Folgen für das Opfer hat, als es z.B. Missbrauchshandlungen eines älteren Stiefbruders haben.

 

Dementsprechend kann folgende Aussage getroffen werden: Je enger die verwandtschaftliche Beziehung oder die innerfamiliale Vertrauensbeziehung zwischen Täter und Opfer ist und je länger eine Misshandlung oder ein sexueller Missbrauch andauert, desto größer ist der seelische Schaden für das Kind. Für beide Opfergruppen gilt unabhängig vom Verwandtschaftsgrad gegenüber dem Misshandler oder Missbraucher, dass Dauer, Länge und Schwere der Taten, der Grad der Nähe zwischen Täter und Opfer und die Reaktion der nahen und vertrauten anderen Bezugspersonen von Bedeutung sind.

 

 

Zwar sind in den letzten Jahren zunehmend Berichte über Folgen des sexuellen Missbrauchs publiziert worden, doch kranken diese Studien meist daran, dass sie nur Auskunft über die Inanspruchnahmepopulation der jeweiligen Klinik oder Beratungsstelle geben. Meist ist das untersuchte Altersspektrum sehr groß (von Kleinkindesalter bis zum Jugendlichenalter), die Zahlen sehr klein, die Täterpopulation heterogen, Art und Ausmaß sowie Dauer des Missbrauchs inhomogen, so dass sich nur schwer fundierte Aussagen vor allem statistisch abgesicherter Zusammenhänge darstellen lassen. Insofern haben beschreibende Übersichten und intensiv studierte Behandlungsberichte und Einzelfallbeschreibungen nach wie vor einen großen Wert.

 

Die Studien von Friedrich et al. (1986), bei denen die Achenbachsche Child Behaviour Checklist (CBCL) eingesetzt wurde, deuten darauf hin, dass bei kleineren Kindern sog. internalising (also in Richtung Introversion, Gehemmtheit etc. gehende) Folgen häufiger seien als externalisiertes bzw. aggressives Verhalten. Im Jugendlichenalter jedoch zeigen sich mit Weglaufen, Streunen etc. dann auch mehr externalisierte Störungen. Eine allgemeine Depressivität gilt insbesondere bei jugendlichen Mädchen als ein häufig mit Missbrauch verbundenes Symptom, kombiniert mit Selbstwertproblemen, wiederholten Suizidversuchen und Suizidgedanken. Auch für das Grundschulalter sind die meist amerikanischen Studien nur für den Faktor sexualisiertes Verhalten übereinstimmend. Häufig wirkt sich der Missbrauch in dieser Altersgruppe auch in Schulverhaltens- oder Schulleistungsproblemen aus.

 

Trotz fehlender übereinstimmender Symptome und unterschiedlicher Ansichten, ob es solche überhaupt gibt, spricht Wolff davon, dass sexuell missbrauchte Kinder häufiger unter Alpträumen, Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Essstörungen, vielfältigen psychosomatischen Störungen anderer Art, Depressionen und geringer Selbstachtung leiden. Sie neigen zu Selbsthass, Schuldgefühlen oder aggressiven Durchbrüchen, wobei im späteren Lebensalter schwere neurotische Fehlentwicklungen und sozial abweichendes Verhalten, wie Alkohol- und Drogenmissbrauch, Promiskuität und Suizid auftreten können.

 

Auch Balloff schildert eine ganze Liste von Symptomen, die auftreten können. Besonders sind es seiner Meinung nach sehr junge Kinder, die durch einen sexuellen Missbrauch extrem traumatisiert werden und mit sehr auffälligen Symptomen reagieren können.

 

Steller  meint, dass die Ausdeutung von allgemeinen Störungssymptomen, z.B. psychosomatische  Erkrankungen, als Folge sexueller Missbrauchserfahrungen zwar möglich, aber prinzipiell hinsichtlich ihrer Verursachung unspezifisch sind.

 

 

 

2.2.1. Alter bei Beginn des Missbrauchs

 

Hier ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Die Studien, die hauptsächlich direkt kleine Kinder beforschen, haben erstaunlicherweise wenige psychopathologische Auffälligkeiten als Resultat. Betrachtet man demgegenüber Arbeiten, die retrospektiv nach den Folgen sexuellen Missbrauchs in der frühen Kindheit fragen, wurden erhebliche Auffälligkeiten gefunden. Dies erscheint insofern wichtig, da es noch einmal unterstreicht, dass sexueller Missbrauch ein Trauma ist, das sich nicht unbedingt sofort in Frühfolgen ausdrücken muss.

 

 

2.2.2. Zusammenhang mit Häufigkeit und Dauer

 

Chronischer sexueller Missbrauch und hohe Häufigkeit des Traumas scheint mit stärkeren psychischen Folgen zusammen zu hängen.

 

 

2.2.3. Einsatz von Gewalt bzw. Gewaltandrohung

 

 

scheint massivere Kurzzeitfolgen hervor zu rufen.

 

 

2.2.4. Missbrauch durch Vater oder Stiefvater bzw. Vaterersatzfiguren

 

hat stärkere Kurz- und Langzeitfolgen, wobei diese Variable mit der Einflussgröße Häufigkeit und Dauer konfundiert, da gerade der innerfamiliale Missbrauch durch den Vater etc. häufig ein langandauerndes chronisches Ereignis darstellt. Übereinstimmend zeigen alle Studien, dass Kinder aus zerbrochenen Familien, aus Familien, wo die Eltern an psychischen Störungen oder Suchten leiden, ein höheres Risiko zeigen, sexuell missbraucht zu werden.

 

 

 

 

 

 

2.3. Falsche Anschuldigungen

 

Die auf empirischen Grundlagen beruhenden Angaben über Vorkommen und Häufigkeit von falschen Anschuldigungen stimmen, soweit ersichtlich weitgehend überein. Differenzierungen sind allerdings sowohl hinsichtlich der Personen vorzunehmen, von denen die Behauptung eines Missbrauchs ausgeht, als auch im Hinblick auf die Anlässe und Verfahren, bei denen eine Beschuldigung erfolgt.

 

Gerade in Scheidungsverfahren, wenn es um das Sorgerecht oder Umgangsrecht geht und/oder wenn die Beschuldigungen mehr von einem Elternteil als vom betroffenen Kind ausgehen, müssen nach Ansicht der American Academy auch Falschbeschuldigungen in Betracht gezogen werden. Hinsichtlich der Aussagen von (Ehe-) Partnern in Familienstreitigkeiten wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass auch die erstmalig in gerichtlichen Verfahren erfolgte Anschuldigung keine Signifikanz im Hinblick auf eine mögliche Falschbezichtigung hat.

 

Unabhängig davon wird in der Literatur vielfach auf die Gefahr hingewiesen, dass Missbrauchsverdächtigungen als Waffe im Sorge- und Umgangsverfahren eingesetzt werden können und hier nicht selten der Sachvortrag auf erfundenen Beobachtungen oder selektiven Wahrnehmungen beruhe oder auf übergroßer Besorgnis.

 

Sowohl empirische Untersuchungen in den USA und in Großbritannien als auch in Deutschland kamen zu dem Ergebnis, dass jedenfalls spontane Aussagen von Kindern in 92% bis 95% (USA) bzw. in 61 von 66 untersuchten Fällen (Deutschland) als glaubhaft zu beurteilen waren. (Endres/Scholz, 1995). Neuste Veröffentlichungen (Fegert 2001) berichten, dass die Mehrzahl der Vertreter der Versorgungseinrichtungen Falschbeschuldigungen für die Ausnahme hält, während sich bei den juristischen Institutionen keine eindeutige Tendenz ergibt.

 

Endres und Scholz gelangen zu der Einschätzung, dass spontane Falschaussagen von Kindern recht selten und dann oft Ergebnis irrtümlicher Induktion durch dritte Personen sind, die von den Kindern subjektiv als wahr übernommen werden. Ggf. liegt dann nicht eine gänzlich frei erfundene Aussage vor, sondern zumeist ein Gemenge von tatsächlichen Begebenheiten, unkritischen Übernahmen von Äußerungen relevanter Erwachsener und eigenen Ergänzungen. Insgesamt bleibt zu unterstreichen, dass selbst in den hochumstrittenen Scheidungsverfahren sogenannte Falschbeschuldigungen oder irrtümliche Beschuldigungen relativ selten vorkommen.

 

Neben der unbeabsichtigten unrichtigen Aussage auf Grund von Suggestion oder eines Erwartungsdrucks wurde in einer britischen Untersuchung ein ganz geringer Anteil von gezielten Falschaussagen von Kindern festgestellt, die damit das Ziel verfolgten, den unerwünschten Stiefvater oder Freund der Mutter aus dem sozialen Nahraum des Kindes zu entfernen.

 

Für absichtliche Falschbeschuldigungen sind kognitive Fähigkeiten und Wissensbestände nötig, die nicht in jedem Alter ohne weiteres vorausgesetzt werden können.

 

In den letzten Jahren kommt für die Aufklärung eines Verdachtes auf sexuellen Missbrauch eine weitere Komplikation hinzu: Das ist der Wunsch, beim Auftauchen eines solchen Verdachtes das Kind schnell in Therapie zu geben. Das Ansinnen an die Therapeuten ist, den Kindern bei der Verarbeitung des vermeintlich erlittenen sexuellen Missbrauchs zu helfen. Der amerikanische Kinderpsychiater Richard Gardner charakterisiert die Situation so: Ein anderes ernstes Problem, das durch solche Therapie hervor gerufen wird, ist, dass die Fähigkeit des Kindes, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden, in schwerwiegender Weise erschüttert wird. Zu Beginn der Therapie wird das Kind dazu gebracht zu glauben, dass ihm sexueller Missbrauch widerfahren sei, während das in Wirklichkeit nicht der Fall war. Aber die Therapie bleibt dabei nicht stehen. Der Therapeut wird typischerweise damit Erfolg haben, Schritt für Schritt mehr Einzelheiten aufzudecken, die angeblich verdrängt waren und jetzt dem Kind wieder zum Bewusstsein gebracht worden sind. Das Kind fängt an, auch diese Fantasien als reale Ereignisse anzusehen, wodurch seine Fähigkeit, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu trennen, weiterhin untergraben wird.

 

Aufdeckungsarbeit in der Therapie kann stärksten suggestiven. Einfluss auf den Patienten. ausüben. Solche Aussagen, die während der und durch die Therapie entstanden sind, sind daher nur mit Vorsicht zu behandeln.

 

 

 

2.4. Die Ergebnisse der Suggestibilitätsforschung

 

Ausgangspunkt der Verdachtsbildung ist oft nicht eine Bekundung von Kindern über sexuelle Missbrauchserfahrung, sondern der Verdacht entsteht durch die Ausdeutung von sog. Signalen. Besonders häufig zu finden ist eine einseitige Interpretation unspezifischen Verhaltensweisen (wie Schlafstörungen, Einnässen, Angst etc.), obwohl belegt ist, dass kein spezifisches Sexuelles Missbrauchssyndrom existiert. Wenn sich ein Anfangsverdacht aufgrund solcher Überinterpretationen verdichtet hat, wird Kindern häufig mit Techniken begegnet, die stark suggestive Wirkung haben.

 

Dass suggestive Einflussnahmen Effekte haben können, lässt sich aufgrund der Forschungslage nicht bezweifeln, ist aber nicht immer der Fall. Daher stellt sich die Frage, in welchen Situationen und unter welchen Bedingungen mit Suggestionseffekten zu rechnen ist.

 

-         Befragervoreinstellung (sog. Interviewer bias) - ist gekennzeichnet durch A-priori-Annahmen darüber, dass bestimmte Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Der Interviewer sammelt Infos, die geeignet sind, die Vorab-Hypothese zu unterstützen, der Interviewer-Hypothese widersprechenden Auskünften des Kindes nicht weiter nachzugehen, Informationen zur Abklärung von Alternativ-Hypothesen nicht zu sammeln, inkonsistente oder objektiv unmögliche Angaben des Kindes zu ignorieren oder im Rahmen der Ausgangshypothese zu interpretieren. Konkret bedeutet das, dass keine offenen, sondern sehr direkte, teilweise suggestive Fragen gestellt und innerhalb einer oder mehrerer Befragungen wiederholt werden.

 

-         Stärke der Gedächtnisspur viele Befunde sprechen dafür, dass suggestive Einflussnahmen dann besonders wirksam sind, wenn die Erinnerung (Gedächtnisspur) für das relevante Ereignis besonders schwach oder gar nicht vorhanden ist und die Gedächtnisspur für die suggerierte Information besonders stark ist. Damit ist eher zu rechnen, wenn zwischen fraglichem Ereignis und suggerierter Information ein längeres Intervall liegt, wenn das Kind zum fraglichen Zeitpunkt sehr jung war, wenn die Suggestion wiederholt erfolgt bzw. wenn sie von mehreren unterschiedlichen Personen, ev. auch noch in unterschiedlicher Weise, heran getragen wird.

 

 

-         Sozial-psychologische Faktoren: es ist davon auszugehen, dass Fehlinformationen in bestimmten Fällen auch dann übernommen werden, wenn eine richtige Erinnerung an das ursprüngliche Ereignis besteht. Dies geschieht entweder, weil die beeinflusste Person ihre eigene Erinnerung als weniger zuverlässig einschätzt als die von einem kompetenteren Dritten vermittelte Information oder weil sich die beeinflusste Person entsprechend den angenommenen Erwartungen verhält. Bei einem Kind kann das Bemühen, die Erwartungen der erwachsenen Autoritätsperson zufrieden zu stellen, besonders relevant sein. Für Kinder ist es üblich, Informationen von Erwachsenen in kommunikativen Prozessen zu erwerben. Vermitteln Erwachsene dem Kind eine spezifische  Auffassung eines Ereignisses, kann das dazu führen, dass das Kind seine eigene Erinnerung revidiert, die sich im Widerspruch zur Vermutung des Erwachsenen befindet, weil das Kind den Erwachsenen für kompetenter hält.

 

Die suggestive Dynamik ergibt sich aus folgenden Umständen:

 

-         die Befragung geschieht durch dem Kind nahestehende Autoritätspersonen (Eltern, Erzieher, Therapeut);

-         die Befragung wird mit großem Nachdruck und mit einer deutlichen Erwartungshaltung durchgeführt;

-         die Befragungen werden wiederholt, in manchen Fällen schier unzählige Male;

-         sie erstrecken sich über einen langen Zeitraum.

 

Für die Beurteilung von Fällen mit mäßigem oder geringem Suggestionspotential hat Greuel kürzlich (1997) auf die Relevanz von Eigenständigkeitsmerkmalen (Arntzen) hingewiesen. Entscheidende Bedeutung kommt dabei den Spontanpräzisierungen und ergänzungen zu, insbesondere wenn diese die logische Konsistenz und Anschaulichkeit der Aussage erhöhen, wenn sie widerspruchslos in das bisherige Aussagematerial integriert werden können, wenn sie in beiläufiger Form vorgebracht werden, wenn sie bei unsystematischen Befragungen in individualtypischem Erinnerungstempo vorgebracht und/oder weitergeführt werden können oder wenn sie ihrerseits qualifizierte Merkmale einer erlebnisfundierten Aussage aufweisen.

 

 

 

 

2.5. Die Prüfung alternativer Hypothesen

 

Wissenschaftliche Forschung ist wesentlich Hypothesenprüfung. Das methodische Vorgehen dabei ist, dass Alternativhypothesen aufgestellt werden müssen und dass die vom Forscher aufgestellte Hypothese nur dann als angenommen gilt, wenn die Alternativhypothesen ausgeschlossen oder widerlegt werden können.

 

Auf Grund des Irrglaubens von der weiten Verbreitung des sexuellen Missbrauchs und des weiteren Irrglaubens, dass Kinder geglaubt werden müsse, wenn sie von sexuellen Handlungen oder Berührungen erzählen, wird heute von Angehörigen der sozialen Berufe häufig versäumt, alle im konkreten Fall möglichen Alternativhypothesen zu prüfen. Auf die Notwendigkeit der Prüfung von Alternativhypothesen auch in der forensischen Praxis weisen die Gutachter mit großer Einmütigkeit hin (Offe u.O; Steller; Ballof et al.).

 

 


2.6.  Feministischer Ansatz

 

Wenn bei der Ursachenforschung auch kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten mit in die Überlegungen einbezogen werden, wird von Frauenforschungsseite gerade beim sexuellem Missbrauch gern auf patriarchalische Lebenszusammenhänge hingewiesen. Nach dieser Sicht wird hervorgehoben, dass Männer und Väter ihre Frauen und Kinder als ihren persönlichen Besitz betrachten. Aus diesem Bewusstsein resultiere die Forderung der Männer nach sexueller Verfügbarkeit ihrer Frauen und Töchter. Erfülle beispielsweise die Frau die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes nicht, greife er auf die Tochter zurück. Dabei scheine auch der Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel angesehen zu werden (Balloff).

 

Parteilich arbeitende Feministinnen in dem Modellprojekt für sexuell missbrauchte Mädchen von Wildwasser haben bei Personen, die wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch Beratung suchten, u.a. folgende Signale gefunden:

 

Schwierigkeiten oder Auffälligkeiten im zwischenmenschlichen Bereich können sich in Form von Kontaktproblemen - anklammerndes, zurückgezogenes, überangepasstes, jedoch auch in aggressives und distanzloses Verhalten oder in psychosomatischen und körperlichen Reaktionen und Symptomen äußern. Doch ist es nach Wolff irreführend, wenn diese Beobachtungen und Befunde als Signale für sexuellen Missbrauch bezeichnet werden. Irgendwelche dieser Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische Reaktionen oder körperliche Befunde können bei vielen, wenn nicht sogar bei fast allen Mädchen irgendwann einmal beobachtet werden (s.o.).

 

Noch bedenklicher ist es, wenn sich Mitarbeiter/innen sozialer Dienste (Erzieherinnen, Ärzte, Therapeuten) der symbolischen Deutung von Spielverhalten, Kontaktverhalten, Zeichnungen, Träumen, Geschichten usw. hingeben.

 

Beispielhaft aber typisch wird aus dem Abschlussbericht von Wildwasser zitiert:

Bei kleinen Mädchen, vor allem im Vorschulalter, sind die sprachlichen Fähigkeiten noch nicht so weit entwickelt, dass sie sexuelle Handlungen präzise beschreiben können. Aufdeckung kann bei sehr kleinen Mädchen also auch bedeuten, dass die Vorgänge nicht verbal ausgedrückt, sondern durch Symbole, bildliche Darstellungen deutlich gemacht, körperlich ausgedrückt oder im Verhalten dargestellt werden. Die Aussagen der Kleinen einzuordnen und zu bewerten, erfordert von den Beraterinnen spezielle Kenntnis und Erfahrung. Gerade die stark symbolische Ausdrucksform in Bild und Spiel wird leicht als kindliche Fantasie abgetan.

 

In diesem Zusammenhang kritisiert Undeutsch auch den Gebrauch von anatomischen Puppen, die anscheinend weiterhin zum Standardinstrumentarium für die sog. Aufdeckungsarbeit vermuteten sexuellen Missbrauchs gehören. Methodisch saubere experimentelle Untersuchungen haben ergeben, dass im Umgang mit diesen Puppen kein diagnostisch verwertbarer Unterschied besteht zwischen Kindern, die sexuell missbraucht worden sind, und solchen, die nach allen zur Verfügung stehenden Kriterien als wahrscheinlich und bestimmt mehrheitlich nicht missbraucht anzusehen sind. Für parteilich arbeitende Feministinnen scheint das allerdings schwer vorstellbar zu sein, dass es viele sexuell nicht missbrauchte Kinder geben könnte.

 

Die anatomischen Puppen haben durch die für Kinder ungewohnte und darum auffallende Ausstattung mit sehr deutlichen Geschlechtsteilen einen erheblichen Aufforderungscharakter zum experimentierenden Spiel, das dann von fantasiereichen Erwachsenen als sexualisiertes Spielverhalten angesehen wird, nur weil sie mit dem Ineinanderstecken von Körperteilen Vorstellungen von sexuellen Tätigkeiten verbinden.

 

Scholz u. Endres merken zu solchen Puppenbefragungen an, sie seien ein Beispiel dafür, wie Puppen in hochgradig suggestiver Form verwendet werden und fügen hinzu: Mehrere experimentelle Studien haben gezeigt, dass zwar nicht der Einsatz anatomischer Puppen an sich, wohl aber ihre Kombination mit suggestiven Fragen die Häufigkeit von Falschangaben oder die Häufigkeit sexualisierten Spielverhaltens erhöht. Jüngste experimentelle Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder im Alter von drei Jahren nicht unter Verwendung anatomischer Puppen befragt werden sollten. Die Mehrzahl der Kinder machte Falschangaben.

 

Ähnliche Ergebnisse liefern Untersuchungen zu der Deutung von Kinderzeichnungen und Farben sowie Zahlen. Der von manchen postulierte Symbolgehalt von Farben und Zahlen wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen nie bestätigt. Oft werden dem Kind zeichnerische Kompetenzen unterstellt, die eher auf dem Niveau einer Karikatur liegen dürften. Z.B. hat Steinhage eine Sammlung von mehr als 120 Kinderzeichnungen vorgelegt, woraus sich ergeben hat (Hartmut Böhm), dass sich Steinhage nicht mit Vermutungen und Arbeitshypothesen etc. bei der Ausarbeitung dieser Zeichnungen aufhält, sondern aus vagen und vieldeutigen Hinweisen eine regelrechte Tatsachenbehauptung konstruiert.

 

Steller und Scholz/Enders erklären, dass die Ausdeutung von Kinderzeichnungen oder die Deutung der Interaktion von Kindern mit sog. Anatomischen Puppen keinen Stellenwert in wissenschaftlich begründeten forensisch-aussagepsychologischen Gutachten haben.

 

 

3.   Methoden der Exploration des Kindes

 

3.1. Allgemeines

 

Eine sachgemäße Exploration des Kindes ist für eine methodisch saubere und dem tatsächlichen Geschehensablauf möglichst nahekommende Sachverhaltsaufklärung außerordentlich bedeutsam. Dabei sollte zunächst immer versucht werden, durch eine entsprechende Aufforderung einen zusammenhängenden Bericht des Zeugen zu erhalten. Anschließende Fragen sollten zunächst so offen wie möglich sein und erst allmählich spezifischer werden (Trichtertechnik). Bei multiplen Sachverhalten ist die hierarchische Fragensequenz ev. mehrfach zu durchlaufen. Dass sich in einer aussagepsychologischen Exploration zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung die Anwendung von Techniken der suggestiven Aufdeckungsarbeit verbietet, wie sie z. B. von Fürniss mit der Technik der Geschichte von dem anderen Kind vorgeschlagen wurde, versteht sich von selbst. Diese vermeintliche Aufdeckungstechnik beinhaltet, dass bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch dem betreffenden Kind in explizit sexualisierter Sprache der sexuelle Missbrauch eines anderen Kindes detailliert geschildert wird. Hintergrund ist, dem bis dahin schweigenden Kind durch die Vorgabe zur Sprache zu verhelfen. Der Anregungsgehalt für eine Falschaussage bzw. der suggestive Charakter einer solchen Methodik insbesondere bei sehr jungen Kindern wird von den Propagandisten der Aufdeckungsphilosophie nicht in Erwägung gezogen.

 

Greuel et al. (1998) halten auch die Befragung mehrerer Personen, die zur Rekonstruktion der Aussagegenese beitragen könnten, durch den Sachverständigen für angemessen. Steller et al. geben aber der Regelung den Vorzug, dass der aussagepsychologische. Sachverständige keine (auch keine informatorischen) Befragungen aller Dritter vornimmt, die in der Aussageentwicklung eine Rolle gespielt haben können. Die spektakulären Massenmissbrauchsverfahren mit ihrem enormen Umfang seien exemplarisch als Beleg dafür angeführt, dass schnell Kapazitätsgrenzen des Sachverständigen überschritten sein können. Wenn man sich die allgemeinen Regeln der Sachverständigen-Tätigkeit vor Augen führt, so wird klar, dass es eine Verpflichtung eines aussagepsychologischen Sachverständigen zur Befragung von Drittpersonen im Umfeld der Aussageentstehung und ihrer weiterer Entwicklung weder aus fachlicher noch aus rechtlicher Sicht gibt. Der Sachverständige hat eben nicht einen Fall zu lösen, sondern seine spezifische Sachkunde zur Problemlösung einzubringen.

 

 

Ziel eines Glaubwürdigkeitsgutachtens ist es, heraus zu finden, ob es medizinische, psychologische, vor allem entwicklungspsychologische, familiär-strukturelle oder andere in der Untersuchung abklärbare Ursachen für eine mögliche Aussageverfälschung oder zum Nachweis einer bewussten Falschaussage des Kindes gibt. Liegen solche Hinweise bei gründlicher Untersuchung nicht vor, ist von der Glaubwürdigkeit des Kindes auszugehen. Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass die meisten einschlägigen Untersuchungen über den Ausgang von Glaubwürdigkeitsbegutachtungen belegen, dass in sehr vielen Fällen ein wahrer Kern bei den Beschuldigungen zu finden ist.

 

Ein familiengerichtliches Verfahren sollte nie dabei stehen bleiben heraus zu finden, was tatsächlich geschehen ist, sondern muss vorrangig aus der Gesamtsituation Konsequenzen ziehen, die nach menschlichem Ermessen dem Kindeswohl entsprechen. Grob vereinfachend kann man von einem Konflikt zwischen den Polen des Kindeswohls und der Wahrheitsfindung sprechen. Da im familiengerichtlichen Bereich das Kindeswohl die wichtigste Maxime für die entsprechenden Entscheidungen ist, muss dies auch bei der Begutachtung ausreichend berücksichtigt werden.

 

Glaubwürdigkeitsgutachten bei sexuellem Missbrauch stehen in einem juristischen und gesamt-gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Gutachter nimmt an einer manchmal mehr als zweifelhaften Prozedur teil, bei der jedes Kind Gegenstand einer Glaubwürdigkeitsuntersuchung werden kann.  Von vielen Kindern wird das Anzweifeln ihrer Glaubwürdigkeit als diskriminierendes Misstrauen erlebt. Hinzu kommt die methodisch nicht unfundierte Annahme, dass mit der Häufigkeit der Befragungen auch die Gefahr steigt, dass die Kinder den Eindruck bekommen, das bisher Gesagte reiche nicht aus, und somit ein gewisser Konfabulationsdruck auf sie ausgeübt wird.

 

Die Vortragende schließt sich dem Eindruck von Fegert an, dass häufig im Bereich der Familiengerichtsbarkeit zu forensisch und zu strafprozessorientiert gedacht wird. Das Glaubwürdigkeitsgutachten bzw. die Glaubwürdigkeit des Kindes wird zum Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens. Besser wäre es zunächst zu überprüfen, ob die gerichtlichen Fragestellungen hinreichend und dem Kindeswohl entsprechend sind. Im Mittelpunkt sollte die Würdigung der Gesamtsituation des Kindes und auch die Erarbeitung von realisierbaren Lösungsvorschlägen stehen, nicht die Beantwortung der Frage nach der Glaubwürdigkeit der kindlichen Aussagen, auf die dann in der Regel eine entsprechende Sorgerechts- oder Umgangsrechtsentscheidung folgt.

 

Im Rahmen der Begutachtung sollte der Blick auf den Hauptfragen liegen: Was tut dem Kind in der jetzigen Situation gut, wie kann man pragmatische Lösungen finden, die dem Wohl des Kindes entsprechen, welche therapeutische und pädagogische Maßnahmen, welcher Umgang, welche Auflagen bzw. Interventionen sind notwendig.

 

Die Begutachtungssituation, in der ohnehin eine Fülle  von Befunden zum Entwicklungsstand und zur Psychopathologie der Kinder erhoben wird, darf deshalb nicht allein der Klärung der Frage  nach dem Missbrauch dienen, sondern sollte auch die angefallenen Befunde im Sinne der zukünftigen bestmöglichen Umsetzung des Kindeswohls interpretieren. Auch wenn sich ein Missbrauchsverdacht als eher unbegründet erweist, muss darüber nachgedacht werden, in welcher familiären Spannungssituation z.B. im Rahmen einer Scheidungsauseinandersetzung, es zu diesem Verdacht gekommen ist und wie unter solchen Bedingungen eine gedeihliche Entwicklung z.B. eines sehr kleinen Kindes vonstatten gehen kann. Die Fragestellungen im familiengerichtlichen Bereich sind globaler aufzufassen als Glaubwürdigkeitsgutachten im Strafverfahren.

 

 

 

 

 

3.2. Entstehung und Begründung eines Verdachtes

 

Offe und Offe haben versucht zu kategorisieren, auf welche Weise der Verdacht des sexuellen Missbrauchs begründet wurde:

 

Konkrete Aussagen über sexuelle Handlungen

-         Aussagen, die von Erwachsenen als Hinweise auf sexuelle Handlungen gedeutet werden.

-         Stark sexualisierte oder sexuelle Verhaltensweisen

-         Andere Hinweise (Zeichnungen, Verhaltensauffälligkeiten, körperliche Befunde etc).

 

Bei konkreten Aussagen über sexuelle Handlungen sind die Fehlermöglichkeiten für kompetente Sprachbenutzer am geringsten. Als Problem ergibt sich allenfalls, dass sehr kleine oder geistig behinderte Kinder manchmal nicht zu den kompetenten Sprachbenutzern gehören. Bei den konkreten Aussagen kommt als weitere Fehlerquelle die Möglichkeit hinzu, dass diese konkreten Aussagen wissentlich oder unwissentlich falsch sein können.

 

Andere Äußerungen, oft im Zusammenhang mit bestimmten Verhaltensweisen, bedürfen wesentlich größerer Interpretationsleistungen auf Seiten des Empfängers, um als Aussagen über Missbrauchshandlungen verstanden zu werden. Die Kommunikations-Intention liegt hier gerade nicht darin, über Missbrauch zu berichten. In diesem Interpretationsprozess liegen erhebliche Fehlermöglichkeiten.

 

Bei sexualisiertem Verhalten ohne Aussagen über sexuelle Handlungen liegt ebenfalls nicht die Intention vor, über sexuellen Missbrauch zu berichten. Die Indikatorfunktion sexualisierten Verhaltens für Missbrauchserfahrungen wird dadurch begründet, dass in solchen Verhaltensweisen ein ungewöhnliches Interesse an und/oder ein ungewöhnliches Wissen über sexuelle Verhaltensweisen Erwachsener zum Ausdruck kommt, die das Kind möglicherweise durch Missbrauchserfahrungen erworben haben kann. Dabei ist es allerdings stark von der Perspektive des Beobachters abhängig, was als sexualisiertes Verhalten wahrgenommen wird.

 

Bei den anderen Hinweisen ist eine Kommunikations-Intention ebenfalls nicht gegeben. Sie sind auch als Indikatoren nicht brauchbar, da es nach inzwischen weitgehend übereinstimmender Auffassung keine Symptome gibt, die einen einigermaßen validen Schluss auf stattgefundenen sexuellen Missbrauch zulassen.

 

 

 

3.3. Probleme der Begutachtung

 

Wie oben dargestellt, ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlinterpretationen bei konkreten Aussagen des Kindes über Missbrauchshandlungen am geringsten. Es muss also Ziel des Gutachters sein, solche Aussagen vom Kind zu gewinnen. Die Interpretation von nonverbalen Verhaltensweisen oder Symptomen des Kindes bietet so große Spielräume, dass allein darauf gegründet eine sichere Diagnose eines sexuellen Missbrauchs nicht möglich ist.  Wenn es gelingt, von einem Kind konkrete Aussagen zu gewinnen, stellt sich die nächste Frage, ob diese Angaben realen Ereignissen entsprechen und somit zutreffend sind oder nicht. Bei der Beurteilung des Realitätsgehaltes konkreter Aussagen über Missbrauchshandlungen sind vor allem zwei Arten unzutreffender Aussagen von Bedeutung:

 

- Bewusst falsche Aussagen

- Subjektiv wahre, aber unzutreffende Aussagen, die durch suggestive Einflüsse zustande.

 kommen.

 

Besonders in den USA hat sich die forensische Psychologie bei der Frage, ob und in welchem Maße die Aussagen vor allem kindlicher Zeugen zutreffend sind, in den letzten 15 Jahren intensiv in vielen experimentellen Studien mit der Frage von Suggestion und Suggestibilität auseinander gesetzt. Wesentliche Ergebnisse sind:

Die Anfälligkeit für suggestive Einflüsse ist eher ein Ergebnis der spezifischen Befragungssituation als eine Persönlichkeitseigenschaft. Allerdings können sich solche suggestiven Situationsmerkmale je nach kognitiven und motivationalen Voraussetzungen bei den Befragten unterschiedlich auswirken.

 

Situative Bedingungen, die zu einer erhöhten Suggestibilität führen, sind:

-         Kognitive Unsicherheit über den Gegenstand der Befragung: Wenn ein Kind keine genaue Vorstellung oder Erinnerung von dem hat, wonach der Befrager fragt, neigt es eher dazu, bei seinen Antworten die in den Fragen enthaltenen Informationen zu nutzen und den Erwartungen nachzukommen.

-         Eine vertrauensvolle Beziehung zum Befrager: Ein Kind vertraut den für es wichtigen Bezugspersonen und neigt dazu, die von ihnen vorgegebenen Informationen für zutreffend zu halten und ihren Erwartungen zu entsprechen.

-         Der erlebte Druck, zu einer Frage Angaben machen zu müssen: Wenn ein Kind sich stark gedrängt fühlt, zu einer Frage Angaben zu machen, neigt es dazu, solche Angaben zu machen und damit auch inhaltlich den wahrgenommenen Erwartungen des Befragers zu entsprechen. In solchen Situationen fällt es Kindern schwer zu sagen, dass sie zu der Frage nichts wissen oder keine Angaben machen können.

-         Ein hohes Statusgefälle zwischen Befragtem und Befrager: Ein hohes Statusgefälle wirkt sich beim Befragen in gleicher Weise aus wie der erlebte Druck, eine Angabe machen zu müssen.

-         Die Art der Fragestellungen und der Rückmeldungen, die der Befrager gibt: Es ist bekannt und leicht nachvollziehbar, dass die Art der Fragestellung, insbesondere ihre Informationshaltigkeit und die in ihr zum Ausdruck kommende Erwartung des Befragers, erhebliche Einflüsse auf die Antwort haben kann. Befragungssituationen sind Lernsituationen. Wenn der Befrager zurück meldet, dass er mit den Antworten nicht zufrieden ist, indem er z.B. Antworten anzweifelt oder Frage wiederholt, neigen Zeugen dazu, ihre Antworten den Erwartungen des Befragers anzupassen.

 

Bei kleinen Kindern sind diese Effekte besonders stark. Über die Altersabhängigkeit und die entwicklungspsychologischen. Grundlagen der Suggestibilität gibt es unterschiedliche Ergebnisse. Vorschulkinder scheinen in höherem Maße suggestiven Einflüssen zu folgen, was mit dem Stand ihrer kognitiven Entwicklung zusammenhängt.

 

Aufgabe des Gutachters ist es, anhand der selbst erhobenen Aussagen festzustellen, ob sie reale Ereignisse beschreiben oder nicht. In Deutschland hat sich dazu ein Verfahren durchgesetzt, das weniger auf die Identifizierung von Suggestionseffekten, sondern eher auf die Unterscheidung von wahren und bewusst falschen Aussagen zielt. Der Grundgedanke dieses Verfahrens, das als Aussageanalyse bezeichnet wird, geht auf Undeutsch zurück:: Eine erfundene Geschichte realistisch zu erzählen erfordert eine erheblich größere kognitive Leistung als die Wiedergabe eines tatsächlich erlebten Ereignisses. Deshalb weisen erfundene Geschichten unter sonst gleichen Bedingungen eine geringere Komplexität auf als erlebte Geschichten. Darüber hinaus sind unter der Bedingung einer bewusst falschen Darstellungsintention, also der Lüge, motivationale Faktoren wirksam, welche die Art der erzählten Geschichte beeinflussen. Es ist wichtig festzuhalten, dass nach diesem Verständnis Glaubhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit kein Merkmal einer Person, sondern ein Merkmal einer Aussage ist.

 

Auf dieser Grundüberlegung aufbauend, haben inzwischen weitere Autoren Listen von Aussagemerkmalen vorgelegt, in denen Geschichten über real erlebte Ereignisse stärkere Ausprägungen zeigen sollten als erfundene Geschichten. Die experimentelle Überprüfung solcher Kriterien steckt allerdings in den Anfängen.

 

In der Gutachterpraxis wird gegenwärtig nicht genügend beachtet, dass es bei Befragungen einen Einfluss des Gutachters auf die Aussage der Zeugen gibt. Dieser Einfluss besteht, weil die Befragung einen interaktiven Prozess zwischen dem Zeugen und dem Gutachter darstellt. Um den Einfluss des Gutachters zu kontrollieren, erfordert die Befragung bestimmte Fragetechniken. Es müssen offene Fragen gestellt und Fragen vermieden werden, die nur eine Ja- oder Nein-Antwort erfordern. Bei Kindern ist mit einer starken Ja-Sage-Tendenz zu rechnen, weil sie bestrebt sind, zu den Personen ihrer Umgebung eine positive Beziehung herzustellen.

 

Die Anzahl der Befragungen der Zeugen schwankt in der Regel zwischen eins und 14, wobei eine Anzahl von 2 bis 3 Terminen die Regel zu sein scheint. Eine Befragung bei einem einzigen Termin wird für unzureichend gehalten. Bei sprachbehinderten oder behinderten Zeugen sind mehrere Termine erforderlich.

 

Die wörtliche Dokumentation ist nach Undeutsch für die Bewertung von Aussagen unerlässlich.: In der Forderung nach der Aufzeichnung jeder Befragung auf Tonträger oder Videoband sind sich alle Sachverständigen rund um die Welt einig (abweichend allein Arntzen).


3.4. Aussagebeurteilung

 

Die zu beurteilende Aussage ist immer das momentane Endprodukt einer Aussageentwicklung. Bei der Bewertung, ob eine Aussage auf Grund des Vorliegens von Realkennzeichen glaubwürdig ist oder nicht, gibt es keine festen und eindeutigen Regeln.

 

Unklar ist zunächst, wie viele Kriterien bzw. Realkennzeichen erfüllt sein müssen und wann ein einzelnes Kriterium als erfüllt anzusehen ist. Welche Anforderungen an eine Aussage zu stellen sind, ergibt sich aus dem Zitat von Arntzen: Unter qualitativem Aspekt ist es die erhebliche Anzahl der Einzelheiten, welche für die Beurteilung der Zuverlässigkeit von Aussagen von Bedeutung ist. Wenn genaue Ortsangaben gemacht werden, Personen in verschiedener Hinsicht beschrieben werden, die Abfolge ihrer Handlungen Schritt für Schritt wieder gegeben wird, Gespräche reproduziert und nicht nur das Kerngeschehen, sondern auch nebensächliche Umstände berichtet werden, dann kann man von einem hohen Detaillierungsgrad der Aussage in quantitativer Beziehung sprechen.

 

Die Bezeichnung der inhaltlichen Qualitätsmerkmale als Glaubwürdigkeitsmerkmale bzw. Realkennzeichen ist nicht zufällig erfolgt. Es handelt sich durchweg um Merkmale, deren Vorhandensein auf den Erlebnisgehalt einer Schilderung hinweist. Bei Fehlen der Merkmale ist der Umkehrschluss auf eine Lüge nicht gerechtfertigt. Das Fehlen von Glaubhaftigkeitsmerkmalen kann zwar durch eine Lüge (fehlende Erlebnisgrundlage) bedingt sein, kann aber auch durch andere Faktoren (z.B. Hemmungen, Angst, Gedächtnismängel) verursacht werden. Der beschriebene inhaltsorientierte Ansatz ist also eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehaltes von Aussagen, er ist keine Methode zur Lügendetektion.

 

Im folgenden werden die über die Inhaltsanalyse hinausgehende Analysebereiche  näher erläutert:

Trotz der prinzipiellen Uneindeutigkeit begleitender Ausdruckserscheinungen im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung ist das Ausdrucksgeschehen des Zeugen Gegenstand der Beobachtung und Analyse im Rahmen von Begutachtungen der Glaubhaftigkeit. Zum Aussageverhalten gehört insbesondere die Gefühlsbeteiligung bei der Schilderung der in Frage stehenden Ereignisse. Zutreffend weist Michaelis-Arntzen (1993) darauf hin, dass Äußerungen von Angst, Scham und Peinlichkeit für sich allein nicht als Glaubhaftigkeitshinweise gewertet werden können. Gerade relativ einfache und durchgehende Gefühlszustände können durchaus simuliert werden. Auch das Fehlen von Begleitaffekten ist nicht eindeutig zu interpretieren: Außer dem Bedürfnis, als Zeuge gut zu funktionieren, können zeitlicher Abstand und wiederholte Befragungen das emotionale Nacherleben auch tatsächlich verringern. Dagegen kann das Auftreten verschiedener Gefühlsqualitäten, ein bei der Reproduktion des Geschehens gefühlsmäßiges Nacherleben, das dem geschilderten Geschehensablauf mit den dabei aufgetretenen wechselnden Gefühlen (z.B. eine Abfolge von Überraschung, Hilflosigkeit, Angst, Entrüstung) entspricht, einen Hinweise für einen Erlebnisbezug darstellen.

 

Die Glaubwürdigkeitsprüfung beinhaltet außer der Überprüfung des Vorliegens der Realkennzeichen auch eine Konstanzprüfung. Dabei besteht die Erwartung, dass eine glaubwürdige Aussage zu verschiedenen Zeitpunkten in den wesentlichen Inhalten übereinstimmt, wobei zu berücksichtigen ist, dass Vergessensprozesse die Aussage verändern können.

 

Zur Fehlerquellenanalyse kann auch die Motivationsanalyse gerechnet werden. Wesentliche Anhaltspunkte für potentielle Belastungsmotive können die Analyse der Beziehung zwischen Zeugen und Beschuldigten und insbesondere die Analyse der Konsequenzen der Anschuldigung für den Zeugen bzw. für den Beschuldigten oder beteiligte Drittpersonen sein. Überlegungen, wer Vor- und wer Nachteile durch die Beschuldigung bzw. eine Verurteilung des Beschuldigten haben könnte, können Hinweise für die Hypothesenbildung über mögliche Belastungsmotive sein.

 

Zur Fehleranalyse gehört auch die personenbezogene Fragestellung, ob im Einzelfall vorliegende Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens (z.B. Selbstwertprobleme und Geltungsbedürfnis, Neurotizismus) oder vorliegende Persönlichkeitsstörungen einen bedingenden Faktor für eine mögliche Falschaussage darstellen können.

 

Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen erfordert immer auch, die individuellen Besonderheiten des Zeugen zu berücksichtigen. Es ist zu beurteilen, ob ein Zeuge in der Lage ist, eine verwertbare Aussage zu machen, was in der Glaubwürdigkeitsbegutachtung durch die Prüfung der Zeugentüchtigkeit geschieht, in der eine grobe Intelligenzschätzung vorgenommen sowie geprüft wird, ob auffallende psychische oder psychotische Besonderheiten einen stark gestörten Realitätsbezug nahelegen. Ist die Zeugeneignung gegeben, so wird gegenwärtig in der Regel zusätzlich die Fantasiefähigkeit des Zeugen geprüft, wobei die Überlegung zugrunde liegt, dass ein Zeuge, der über eine geringe Fantasiefähigkeit verfügt, kaum in der Lage ist, Beschuldigungen detailliert zu erfinden. Die verschiedenen Prüfungen der Fantasiefähigkeit, Merkfähigkeit etc. beinhalten das Problem, dass die Übertragbarkeit der Ergebnisse wegen der Verschiedenheit der Untersuchungssituation und der realen Lebenssituation der Kinder fraglich ist. Methodisch gesehen sollen bei den verschiedenen Prüfungen der individuellen Fähigkeiten generalisierende Persönlichkeitsmerkmale erfasst werden, von denen man annimmt, dass sie sich in allen Äußerungen des Kindes in gleicher Weise dokumentieren werden. Ob diese Voraussetzung zutrifft, ist sehr zweifelhaft.

 

Offe und Offe schlagen deshalb ein anderes Verfahren zur Prüfung der individuellen Besonderheiten vor. Die Aussagen des Zeugen zur Sache werden bei diesem Vorgehen mit weiteren Berichten des Zeugen verglichen. Dazu werden Berichte erhoben:

 

-         über unstreitige andere Erlebnisse, die die Kinder tatsächlich erlebt haben, was man durch Befragung der Eltern feststellen kann;

-         über Sachverhalte, deren Inhalt vom Gutachter vorgegeben wird und bei denen sicher gestellt ist, dass die Person die Situation nicht erlebt hat (z.B. Operation, Unfall etc.)

 

Bei der vorgeschlagenen Vorgehensweise werden verschiedene Aussagen der Zeugen zu unterschiedlichen Sachverhalten miteinander verglichen. Das Verfahren bezieht sich damit auf verbale Stichproben, deren Ähnlichkeit mit der Zeugenaussage gesichert und deren Vergleichbarkeit daher gegeben ist.

 

Ergänzende Aufschlüsse zur Aussagenanalyse bieten die Untersuchung der Aussagengenese und der Aussagenentwicklung für die Prüfung, ob suggestive Einflüsse bei der Aussagegenese und Aussageentwicklung vorgelegen haben können. Die Rekonstruktion der Situation der Erstaussage eines Zeugen lässt erkennen, unter welchen Umständen die Aussage entstanden ist, ob sie z.B. von einer Mutter oder von einer Erzieherin initiiert worden ist oder vom Kind spontan an eine erwachsene Person heran getragen worden ist. Protokolle von Aufdeckungsgesprächen lassen häufig suggestive Einflüsse erkennen, ebenso die Befragung, die Mütter mit ihren Kindern durchführen, wenn sie von dem Missbrauch z.B. auf Grund eines ihnen auffällig erscheinenden Verhaltens überzeugt sind, noch bevor das Kind sich darüber geäußert hat.

 

Die Aussageentwicklung von der Erstaussage bis zur Begutachtung zu verfolgen ist auch erforderlich, um Einflüsse weiterer Personen auf die Aussage beurteilen zu können, die ev. ebenfalls das Kind bereits befragt haben. In mehreren Fällen wurde festgestellt, dass Kinder bereits mehrfache Befragungen und sogar Therapien hinter sich hatten, wenn eine Begutachtung begann.

 

Ceci und Bruck fassen die Bedeutung der Rekonstruktion der Aussagegenese und entwicklung wie folgt zusammen:

 

Es erscheint besonders wichtig, die Umstände zu kennen, unter denen die Erstaussage gemacht wurde, wie oft das Kind befragt wurde, welche Hypothesen die Interviewer bei der Befragung hatten, die Art der Fragen, die dem Kind gestellt wurden, und die Konsistenz der Aussagen des Kindes im Verlauf der Zeit. Wenn die Aussage vom Kind in einer nicht-bedrohlichen, nicht-suggestiven Atmosphäre gemacht wurde, wenn die Aussage nicht die Folge wiederholter Interviews ist, wenn die Erwachsenen, die mit dem Kind vor der Aussage zu tun hatten, nicht motiviert waren, die Angaben des Kindes durch starke Suggestionen und durch Drillen zu erreichen, und die Erstaussage des Kindes im Verlauf der Zeit sehr konsistent bleibt, dann ist das junge Kind ein brauchbarer Zeuge.

 

Eine Rekonstruktion der Erstaussage und ihres situativen Zusammenhanges ist auch erforderlich, um die Frage möglicher Motive für eine bewusste Falschaussage zu klären.  Anhaltspunkte in Bezug auf motivationale Faktoren lassen sich zwar schon aus der Aussagenanalyse gewinnen, da einige motivationsbezogene Realkennzeichen in bewussten Falschaussagen seltener als in einer wahren Aussage zu erwarten sind. Aufschlüsse über mögliche Motive für eine wahre oder falsche Aussage ergeben sich darüber hinaus auch aus der psycho-dynamischen Situation der Zeugen zum Zeitpunkt der Erstaussage. Dies erfordert eine Analyse der Beziehungen, die die Zeugen zu dem Beschuldigten zum Zeitpunkt der

Beschuldigung und vorher gehabt haben.

 

Der unauflösliche interaktive Bezug von Aussagequalität (inkl. Konstanz und Aussageweise), personaler Kompetenz und Aussagegeschichte (Bedingungen der Erstaussage und der weiteren Entwicklung) determiniert das praktische Vorgehen der Datenerhebung und das diagnostische Schlussfolgern bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen. Hilfreich für die Integration der Ergebnisse aller Analysebereiche für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung einer konkreten Aussage ist dabei die so genannte Leitfrage der Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Könnte dieser Zeuge mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert?

 

Das methodische Prinzip, das durch die Leitfrage der Aussagebeurteilung verdeutlich wird, ist in den empirischen Wissenschaften unbestritten. Es besteht darin, dass ein zu überprüfender Sachverhalt (hier die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange negiert wird, bis diese Negation mit gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich Ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet gedanklich also zunächst mit der Unwahrannahme als sog. Nullhypothese. Ergeben seine Prüfstrategien, dass die Unwahrhypothese mit den vorliegenden Fakten nicht kompatibel ist, wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, die Wahrheitsannahme.

 

Ein grundlegender Unterschied zwischen einer wahren und einer gelogenen Darstellung besteht darin, dass der aufrichtige Kommunikator seinen Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert, während er lügende Zeuge seine Aussage aus dem gespeicherten Allgemeinwissen konstruieren muss. Ein zweiter Unterschied zwischen einem aufrichtigen und einem lügenden Kommunikator betrifft die Selbstpräsentation. Ein lügender Kommunikator  verfolgt das Ziel, bei den Rezipienten den Eindruck eines glaubwürdigen Kommunikators, also einen falschen Eindruck zu erzeugen, um so die Wirklichkeit einer falschen Aussage zu unterstützen. Hierzu greift der Kommunikator auf Vorstellungen darüber zurück, welche Verhaltensweisen, Äußerungen etc. einen solchen Eindruck bei dem Rezipienten bewirken und welche umgekehrt zum Verdacht der Unglaubwürdigkeit führen. Von daher ist anzunehmen, dass falsche Aussagen in der Regel nur in geringem Ausmaß Selbstkorrekturen, Zugeben von Erinnerungslücken, Selbstbelastungen o.ä. enthalten (Köhnken). Erfundene Handlungsschilderungen werden also je nach gegebener Leistungsfähigkeit des Aussagenden inhaltlich relativ wenig elaboriert ausfallen, da der lügende Zeuge ein erhebliches Ausmaß seiner kognitiven Energie auf kreative Prozesse und auf Kontrollprozesse verwenden muss. Daraus ergibt sich, dass eine erfundene Handlungsschilderung im intraindividuellen Vergleich wahrscheinlich eine geringere inhaltliche Qualität aufweist als eine wahre Bekundung über ein Erlebnis.

 

Es wird angenommen, dass Falschaussagen eher durch eine kontinuierliche, strukturierte, meist chronologische Darstellungsweise gekennzeichnet ist.

 

 

Selbst ein noch so sorgfältig und gut begründetes Gutachten führt nicht immer zu einem eindeutigen Ergebnis. Es gibt Fälle, in denen mit hoher Sicherheit festgestellt werden kann, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Es gibt Fälle, in denen einige Hinweise darauf vorhanden sind, in denen sich aber auch andere Interpretationen der vorliegenden Informationen nicht ausschließen lassen.

 

In manchen Fällen lassen sich im Rahmen der Begutachtung keine deutlichen Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch finden. Auch in diesen Fällen ist damit nicht bewiesen, dass kein Missbrauch stattgefunden hat. Dieser Beweis ist grundsätzlich nicht möglich. Dennoch erscheint in solchen Fällen die formal sicher korrekte Schlussfolgerung eines Gutachters, dass sich der Verdacht des Missbrauchs nicht erhärten, aber auch nicht widerlegen ließ, bedenklich, zumal wenn er mit der Empfehlung verbunden wird, im Zweifelsfall  das Kind zu seinem Schutz aus der Familie heraus zunehmen. Wenn sich im Rahmen eines sorgfältigen Begutachtungsprozesses  keine Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch ergeben haben, so muss dies auch als Ergebnis des Gutachtens festgehalten werden.

 

Angesichts der benannten Probleme soll vor einer diagnostischen Selbstüberschätzung der Gutachter gewarnt werden. Es gehört auch zum Auftrag eines Sachverständigen, die fachlichen Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten deutlich zu machen. Ein geschärftes Bewusstsein dafür, welche Schlussfolgerungen als wissenschaftlich begründet gelten können und welche methodischen Vorgehensweisen erforderlich sind, um zu solchen Schlussfolgerungen zu kommen, erscheint notwendig.

 

Insbesondere in Strafverfahren wird dem Glaubwürdigkeitsgutachten ein zu hoher Stellenwert eingeräumt mit der Folge, dass andere Strategien zur Aufklärung des Sachverhalts, die eher auf traditioneller kriminalistischer Ebene liegen, nicht ausreichend genutzt und berücksichtigt werden. Manche Aussagen lassen sich durch unabhängige Zeugen leichter als zutreffend erweisen als durch die Aussagenanalyse.

3.5. Videovernehmung

 

Um die Belastung der Kinder möglichst gering zu halten, könnten aussagespychologische Begutachtungen im Zusammenhang mit der Konservierung von Erstvernehmungen erfolgen. Hier ist darauf hinzuweisen, dass eine dem Kinderschutz dienende Verwendung von Videodokumentationen nur dann zu erwrten ist, wenn die Vernehmungen bzw. Explorationen bei den dokumentierten Befragungen sachgerecht erfolgt sind.

 

Erste Erfahrungen mit dem Einsatz der Videotechnik bei Kindervernehmungen in Deutschland haben (laut einer Untersuchung mit 30 Gutachterinnen, die Erfahrungen mit insgesamt 16 Videovernehmungen in Vorverfahren und vier in Hauptverhandlungen hatten; das Alter der Kinder variierte zwischen 4 und 14 Jahren) gezeigt, dass der Videoeinsatz in Hauptverhandlungen den bisherigen Vernehmungsmethoden nicht immer überlegen ist und in bestimmten Fällen, z.B. bei Kindern, für die eine Situationskontrolle wichtig ist, nicht praktiziert werden sollte, während er in anderen Fällen, z.B. bei einer großen Anzahl Prozessbeteiligter oder bei Kleinkindern durchaus hilfreich sein kann. In jedem Fall ist es aber erforderlich, Kinder besser auf diese Art der Vernehmung vorzubereiten und ihnen die Vernehmungssituation so transparent wie möglich zumachen.

 

Mit der Videovernehmung von Kindern im Vorverfahren sind teilweise recht gute Erfahrungen gemacht worden, wobei sich aber der Mangel an Praxis seitens der Befrager, eine ungenügende Ausstattung der Vernehmungsräume sowie technische Mängel wie eine schlechte Tonqualität der Videobänder ungünstig bemerkbar machten. Auch im Vorverfahren sollte bei ängstlichen und gehemmten Kindern auf den Einsatz der Videotechnik verzichtet werden. Dass die eigentliche Absicht der Videovernehmung, nämlich die Beschränkung auf eine einmalige Vernehmung des kindlichen Zeugen im Verfahren, tatsächlich erreicht werden kann, wurde von allen befragten Gutachterinnen als unrealistisch eingestuft.

 

 

 

4.  Umgang mit sexuellem Missbrauch institutionelle und individuelle Reaktionen

 

4.1. Methode und Untersuchung

 

Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsansatzes mit medizinisch-psychiatrischen, psychologischen und juristischen Schwerpunkten wurde eine Untersuchung zum institutionellen Umgang mit sexuellem Missbrauch und dessen Auswirkungen für die Betroffenen konzipiert. Die Untersuchung wurde im Ballungsgebiet Köln-Berlin durchgeführt, da diese beiden Großstadträume über ein differenziertes Angebot von Beratungseinrichtungen und entsprechenden Gerichtsbezirken verfügen.

 

Ziel der ersten Projektphase war es, berufserfahrene, mit der Missbrauchsproblematik befasste Experten des gesamten institutionellen Netzes zu ihren konkreten Handlungsstrategien, Erfahrungen und Einstellungen zu befragen. Die zweite Phase des Projekts beinhaltet eine prospektive Untersuchung des sog. Case-flow im Institutionsnetz.

 

Im Mittelpunkt standen dabei Themenbereiche des individuellen Verhaltens mit den Aspekten der psychischen Befindlichkeit und sozialen Umwelt der Kinder, zu konkreten Erfahrungen mit Institutionen und zur Wirksamkeit von Maßnahmen in bezug auf das Kindeswohl in der Verlaufsperspektive.

 

Der institutionelle Umgang mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs ist durch das Zusammenspiel eines heterogenen institutionellen Systems strafrechtlicher, familien- und vormundschaftsrechtlicher sowie psychosozialer Instanzen gekennzeichnet. Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Interventionsstränge sowie die Frage nach dem Gelingen oder Misslingen der Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen ist dabei von zentraler Bedeutung für das Kindeswohl.

 

Vor diesem Hintergrund wird in dem durchgeführten Forschungsprojekt zum einen der Frage nachgegangen, wie das gesamte institutionelle Spektrum zusammenwirkt, welche Einflussgrößen das institutionelle Handeln bestimmen und welche expliziten und impliziten Bedeutungen rechtliche Bedingungen für das institutionelle Vorgehen haben.

 

 

4.2. Ergebnisse

 

Zunächst muss festgestellt werden, dass die Institutionenvielfalt in diesem Bereich für viele der interviewten Akteure und erst recht für die betroffenen Kinder und ihre erwachsenen Sorgeberechtigten nicht durchschaubar war. Die Untersuchung machte deutlich, dass die Nutzung einer Vielzahl von Institutionen in diesen Fällen die Regel und nicht die Ausnahme war. Ein offensichtlicher Mangel an Orientierung und Koordination wurde deutlich. Eine gezielte Nutzung einzelner Institutionen und Angebote ist aufgrund des mangelnden initialen Informationsstandes der Sorgeberechtigten kaum möglich.

 

Die Struktur der Interventionslandschaft ist hoch differenziert, aber für die Betroffenen und auch viele professionelle Akteure in manchen Verästelungen undurchschaubar.

 

Der angenommene Zusammenhang zwischen höherer familiärer Belastung und vermehrter Nutzung psychosozialer Versorgungsangebote ließ sich ebenfalls belegen. Dies bedeutet auch, dass gerade Kinder aus ohnehin stark belasteten Familien mit der größeren Zahl an Helfern konfrontiert werden.

 

In der Untersuchung lassen sich chronisch missbrauchte Kinder, die häufig durch unterschiedliche Täter missbraucht wurden, aus einer mit hohen sozialen Risiken belasteten Familie stammen und eine belastete Beziehung zu ihrer Mutter haben, als Hochrisikogruppe beschreiben.

 

In den Familien der chronisch missbrauchten Jugendlichen fanden sich mehr kriminelles, antisoziales Verhalten und mehr Alkohol und Drogenmissbrauch.

 

In dieser wie auch schon in anderen Studien wird deutlich, dass andere psychosoziale Risiken und die Vorgeschichte vor dem Missbrauch den Verlauf wesentlich mit beeinflussen.

Versucht man nun, den Ablauf des Interventionsgeschehens, d.h. den inner- und interinstitutionellen Prozess auf seine Qualität hin zu untersuchen, so muss als zentrales Ergebnis der Studie festgehalten werden, dass nicht nur im strafrechtlichen Feld, sondern auch im Beratungsfeld Mehrfachbefragungen der betroffenen Kinder die Regel und nicht die Ausnahme sind. Insofern ist sowohl für die Beratungsqualität als auch für die Ermittlungsqualität eine genaue Erhebung der institutionellen Vorgeschichte unabdingbar.

Die dargelegte Perspektive der betroffenen Kinder und Eltern unterstreicht um so deutlicher, dass eine Implementierung und Qualitätssicherung viel stärker in den Blick rücken müssen.  Instrumente wie die richterliche Vernehmung sind nicht per se gut für die Opfer, sondern ihre Qualität steht und fällt mit der Qualität der Befragung durch den Richter und mit der Atmosphäre, die dieser zu schaffen vermag. Auch der nunmehr mögliche Einsatz der Videotechnik stellt nicht per se eine technische Wunderwaffe des Opferschutzes dar. Videotechnik ist bei sinnvollem Einsatz zukünftig auch im Gericht ein  wichtiges Hilfsmittel, welches die Qualität bestimmter Prozesse dokumentieren und die Wiederholung von Befragungen vermeiden kann. Doch auch diese Technik ist primär abhängig von der Qualität der Prozesse. Der Einsatz von Videotechnik allein steigert keine Befragungsqualität, vielmehr muss derzeit noch befürchtet werden, dass die mangelnde technische Ausstattung die ohnehin unter Stress stehenden Befragten zusätzlich belasten.

 

 

4.3. Verhaltensgrundlagen

 

Die Experten unterschieden sich untereinander sehr viel mehr durch ihre Berufsgruppenzugehörigkeit als durch die Variable Geschlecht. Im institutionellen Umgang ist also nicht eine männliche bzw. weibliche Sichtweise der Problematik des sexuellen Missbrauchs entscheidend für bestimmte Aussagen und Handlungsschritte, vielmehr sind es Berufsgruppenidentitäten und implizite bzw. explizite Normen des jeweiligen Berufsfeldes. Bei der Analyse der qualitativen Interviews war vor allem die scheinbar sich teilweise überkreuzende Verteilung impliziter und expliziter Ziele beeindruckend. Dient das Handeln der Kripo explizit der Ermittlung, so ist hiermit aus Sicht der Interviewpartner implizit die Idee des Kinderschutzes verbunden. Wird in einer spezifischen Beratungsstelle ein Angebot der Jugendhilfe realisiert, sprechen die Befrager von Verdachtsabklärung, Sicherung der Aussage, Sicherung der Fakten, letztendlich von Ermittlung. Hieran wird ein interner Dialog mit der Kritik durch andere Berufsgruppen deutlich. Wirft man den speziellen Beratungsstellen vor, zu voreilig und ohne Abklärung Verdachtsfälle für erwiesen zu halten, so verstärkt man deren Tendenz, bestimmte Hilfsangebote von Ermittlungsergebnissen abhängig zu machen. Diese Entwicklung bleibt aber fragwürdig, da weder ein klarer Auftrag für die Ermittlungen noch entsprechende Eingriffsmöglichkeiten bestehen und auch keine konkreten Konsequenzen aus solchen Ermittlungsergebnissen beschrieben werden können. Umgekehrt lässt sich auf der anderen Seite feststellen, dass, wenn man der Kripo immer wieder vorwirft, sie quetschen die Zeugen nur zu Ermittlungszwecken aus, sie besonders bemüht sind, im Gespräch mit den Betroffenen hilfreich zu wirken. Sie brauchen auch für die eigene Psychohygiene die Überzeugung, mit ihrer Arbeit Kinderschutz zu betreiben.

 

 

4.4. Verhaltensgrundlagen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien

 

Die Mehrzahl der untersuchten Kinder zeigte eine vom Schweregrad her deutliche psychische Beeinträchtigung in der Akutphase der institutionellen Bearbeitung der Problematik. Bei      sehr vielen Kindern musste eine psychiatrische Diagnose gestellt werden. Starke psychische Belastungen fanden sich bei Kindern, bei denen primär ein helferischer Zugang gewählt wurde, genauso wie bei Kindern, bei denen primär eine Strafanzeige erfolgt ist. Generell kann festgestellt werden, dass sich diese erhebliche psychische Belastung im Verlauf des Katamnesezeitraumes reduziert hat. Der Verlauf ist abhängig von den psychosozialen Gegebenheiten und insbesondere von der Beziehungsqualität zur Mutter und deren psychischer Stabilität. Psychisch vorbelastete Kinder waren signifikant häufiger mehrmalig missbraucht worden. Wie in anderen Studien zeigten sich auch erhebliche psychosoziale Risiken als häufiger Belastungsfaktor in den Familien der betroffenen Kinder. So kamen in mehr als einem Viertel der Fälle psychiatrische Krankheiten, Alkohol oder Kriminalität in der Herkunftsfamilie vor. Zwei Drittel der Gesamtstichprobe lebten in sozial ungünstigen Bedingungen, gemessen am Family-Adversitiy-Index.

 

Durch die spezielle Situation der Kinder verändern sich auch familiäre und soziale Beziehungsgefüge. Sexuell missbrauchte Kinder nennen signifikant  mehr Personen in ihrem sozialen Netzwerk als Kinder einer Vergleichsgruppe. Sexuell missbrauchte Kinder schätzen sich selbst innerhalb ihrer Familie als einflussreicher ein, teilweise wurde eine Hierarchieumkehr oder Gleichstellung mit der Mutterposition deutlich, was in Familien mit sexuellem Missbrauch für eine erhebliche Beeinträchtigung der Balance der Eltern-Kind-Subsysteme spricht.

 

Zwischen den psychischen Belastungen und der allgemeinen Befindlichkeit der Mütter und dem kindlichen Belastungsgrad bestehen deutliche Korrelationen. Beeindruckend war, wie klar und dezidiert die Kinder bei der halbstrukturierten Befragung nach ihren Erwartungen und Wünschen gegenüber dem institutionellen Bearbeitungsprozess sowie zu ihren Erfahrungen in den Institutionen Auskunft geben konnten.

 

 

 

4.5. Zusammenfassung der Ergebnisse der interdisziplinären Verfahrensanalyse

 

Die mangelnde Koordination von Aktivitäten führt zu zusätzlichen Belastungen für die Betroffenen. Die mangelnde Informationen in einem undurchschaubaren Hilfesystem berührt direkt die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Kinder. Bislang ist auf dieser Ebene viel zu wenig unternommen worden, um den Betroffenen und ihren Sorgeberechtigten tatsächlich Entscheidungsalternativen zu ermöglichen. Zwar wird überall sehr viel von Vernetzung gesprochen, doch stellten sich in der vorliegenden Untersuchung häufiger eben nicht inhaltlich vernetzte Delegationsketten dar.

 

In der vorliegenden Studie hat sich die Bedeutung der zeitlichen Dauer von Strafverfahren, familiengerichtlichen Verfahren, aber auch der Hilfeprozesse als wesentlicher Belastungsfaktor erwiesen. Deutlich wird auch, dass  die Leistungsgrenzen gerichtlicher Verfahren durch Interessengegensätze z.B. zwischen Kindesinteressen und Interessen der Sorgeberechtigten, zwischen Interessen der Opferzeugen und dem Interesse nach Tataufklärung etc. geprägt sind. Bei der Mehrzahl der befragten Experten wie auch bei den Betroffenen selbst scheint ethisch eindeutig ein Primat der Hilfe, Krankenbehandlung, Therapie vor der Notwendigkeit der Tataufklärung gesehen zu werden.

 

 

Literatur:

Rainer Balloff: Kinder vor Gericht, Verlag Beck München 1992.

E. Carl: Die Aufklärung des Verdachts sexuellen Missbrauchs in familien- und vormundschaftsgerichtlichen Verfahren in: FamRZ 1995, Heft 19.

Jörg M. Fegert: Umgang mit sexuellem Missbrauch, Votum Verlag 2001.

Petra v. Knoblauch zu Hatzbach: Videovernehmung von Kindern erste Erfahrungen deutscher Gerichtspsychologinnen, in: ZRP 2000, Heft 7.

Katharina Rutschky: Handbuch Sexueller Missbrauch, Rowohlt Taschenbuch 1999.

Praxis der Rechtspsychologie, Jahrgang 9, Juli 1999:

Artikel von U. Undeutsch & G. Klein: Wissenschaftliches Gutachten zum Beweiswert physiopsychologischer Unterschungen.

Artikel von M. Steller und K.P. Dahle: Wissenschaftliches Gutachten. Grundlagen, Methoden und Anwendungsprobleme psychophysiologischer Aussage- bzw. Täterschaftsbeurteilung (Polygragpie, Lügendetektion).

Praxis der Rechtspsychologie, Jahrgang 9, November 1999:

Artikel von M. Steller und R. Volbert: Glaubwürdigkeitsbegutachtung.

Praxis der Rechtspsychologie, Jahrgang 10, November 2000:

Artikel von B. Schade und M. Harschneck: Konsequenzen für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung aus der Sicht des psychologischen Gutachters und des Strafverteidigers.

Artikel von St. Schulz-Hardt & G. Köhnken: Wie ein Verdacht sich selbst bestätigen kann. Konfirmatorisches Hypothesentesten als Ursache von Falschbeschuldigungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs.